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6. August 2025

Warum die Science-Fiction mehr Anti-Dystopien wagen sollte

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Science-Fiction muss und kann mehr sein als Katastrophen-Schocker, die uns Todesangst vor Künstlicher Intelligenz oder KI machen, oder Utopien, die eine wunderbare, aber völlig unrealistische Zukunft skizzieren. Warum sie dem Vorschlag von mehr „Anti-Dystopien“ durchaus etwas abgewinnen kann, erklärt unsere SciFi-bewanderte Kolumnistin Kryptomania alias Aleksandra Sowa in ihrer Besprechung zu einem neuen Sachbuch.


Eine Kolumne von Dr. Aleksandra Sowa


Roland Emmerich, der Regisseur des Science-Fiction-Untergangfilms Moonfall (2022), der einige Jahre zuvor bereits mit dem Klimakatastrophen-Film The Day After Tomorrow dem Publikum eine Riesenangst vor den Folgen des Klimawandels eingejagt hatte, kritisierte in einem Gespräch mit dem Hollywood Reporter, dass der Film Don’t Look Up (2021) seines Fachkollegen Adam McKay die Wirkung verfehle, die seinen – Emmerichs – Filmen eigen sei. Schuld daran sei der komödiantische Charakter des Films (tatsächlich wird Don’t Look Up als schwarze Komödie klassifiziert) und die Tatsache, dass bei den Zuschauerinnen, gerade durch die Schlussszene, nicht genug Angst erzeugt werde.


Dies sei bei Emmerichs Moonfall ganz anders: Zwar wollte er offenbar weder auf komische Elemente noch auf unterhaltsame Dialoge verzichten, doch die Botschaft ist eindeutig: Künstliche Intelligenz (KI) ist böse und bedrohlich, für viele Menschen zweifelsohne tödlich. Sogar der Planet kommt nur knapp davon – wenn der Mond auf die Erde zurast. Emmerich liefert.


In der Kryptomania-Kolumne (Schauen wir Moonfall und lassen uns zu Tode erschrecken: Für bessere Software – oder wenigstens bessere KI) haben wir uns damals gefragt, ob man wenigstens den Regulierungsbehörden und Normengebern in Deutschland oder der EU nicht nahelegen sollte, sich „von Moonfall zu Tode erschrecken zu lassen“ – um sie so zu etwas mehr Eile bei der Regulierung der KI zu inspirieren. Dies war im Februar 2022. Im November 2022 hat OpenAI einen Chatbot namens ChatGPT kostenfrei für die Öffentlichkeit freigegeben. Der KI-Boom begann.


Tatsächlich, bestätigt die Science-Fiction-Expertin und Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann in ihrem aktuellen Buch Zukunft ohne Angst (2025), hätte eine Umfrage in Großbritannien ergeben, „dass Menschen nach dem Kinobesuch des Katastrophenfilms The Day After Tomorrow (2004) zumindest kurzfristig besorgter über den menschengemachten Klimawandel waren als vorher und Motivation zeigten, Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels oder dessen Abmilderung zu ergreifen.“ Kommerzialisierung und Sensationalisierung führen jedoch dazu, dass sich Dystopien immer weiter von explizit politischer Kritik entfernen. Vom „disaster porn“ – der Lust an Zerstörung und Untergang – in der Science-Fiction spricht Isabella Hermann in Anlehnung an Susan Sontag.


Was hilft mehr – Katastrophenpädagogik oder Utopien? Weder noch.


Wenn ein Science-Fiction-Film oder -Roman heute – um es mit Emmerich auszudrücken – seine Wirkung nicht erzielt, so muss man sich zunächst fragen, welche Wirkung überhaupt noch beabsichtigt ist. Einerseits kann die „Katastrophenpädagogik“ zu mehr Motivation, Aktivität, besseren Entscheidungen, gesellschaftlichem Engagement, ja Umwelt- und Klimaaktivismus führen – ob bei Profi-Politikern oder im individuellen Lebensstil. Andererseits kann sie lähmen, „weil Ängste und Abwehrmechanismen entstehen können, die zu Untätigkeit führen“. Gerade im Umfeld der Climate-Fiction (cli-fi) wirken Dystopien oft fast wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: „Man kann an der unheilvollen Situation sowieso nichts mehr ändern, weil die Dystopie entweder schon da ist oder unmittelbar bevorsteht.“ Statt zu motivieren, sind „Dystopien mittlerweile so weit im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs angekommen […] dass sie die Ängste, durch die sie hervorgebracht werden, in der Gesellschaft sogar noch verstärken.“


Liegt die Lösung dafür, mit Science-Fiction zu Handlungen zu motivieren – oder, um „überhaupt positive Gedanken fassen zu können“ – also in den Utopien? Auch hier zeigt sich Isabella Hermann skeptisch: Das 20. Jahrhundert war, wie sie schreibt, „geprägt von der komplexen Pervertierung utopischer Ideen“. Das Versprechen einer besseren Zukunft – ob durch den Nationalsozialismus in Deutschland, den Kommunismus in der Sowjetunion oder den Maoismus in China – wurde nicht eingelöst. Auch die Versprechen des Neoliberalismus, Wohlstand für alle zu schaffen, haben sich nicht bewahrheitet und führten – und führen weiterhin – im Gegenteil zu wachsender sozialer Ungleichheit. „Die literarischen Utopien der perfekten Gesellschaft sind aus der Mode gekommen“, schreibt Isabella Hermann, „zu weit scheinen sie von unserer Wirklichkeit entfernt.“


Eine Beobachtung, die auch der Anthropologe David Graeber in Bürokratie. Die Utopie der Regeln (2017) mit Isabella Hermann teilt: Die Generation, die die Apollo-Mondlandung noch in der frühen Kindheit miterlebt hatte, hatte zwar (sicherlich) nicht erwartet, dass alles, was man in den Science-Fiction-Romanen las, zu ihren Lebzeiten verwirklicht werden würde – aber sie ahnte nicht, „gar nichts davon je zu Gesicht zu bekommen“. Graeber liefert auch eine mögliche Erklärung dafür: Es habe eine „bewusste oder halb-bewusste Verlagerung der Investitionen von Forschungsvorhaben, die zu besseren Raketen und Robotern führen sollten, hin zu Projekten“ gegeben, „die Dinge wie Laserdrucker und Computertomographen hervorbrachten“. Die Ursache dafür sieht er in der Sorge der „Staatsmänner und Industriekapitäne“, dass die „bestehenden Muster der technologischen Entwicklung zu sozialen Verwerfungen führen würden“. Also wurde die technologische Entwicklung gezielt in jene Richtungen gelenkt, die die bestehenden Autoritätsstrukturen nicht in Frage stellten.


Diese Kritik zusammengefasst mit den Worten von Peter Thiel: Wir wollten fliegende Autos – und bekamen 140 Zeichen. Könnte man, fragte David Graeber, eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung in Angriff nehmen, ohne einen Prozess in Gang zu setzen, der zwangsläufig in einer neuen, gigantischen Bürokratie endet? Und ist womöglich der Utopismus selbst – die Vorstellung, man müsse sich eine bessere Welt erst vorstellen, um sie dann zu verwirklichen – bereits Teil des Problems?


Es braucht Widerstand gegen negative Zukünfte!


Isabella Hermann ist überzeugt: Wir brauchen positive Zukunftsvisionen. Doch dafür reichen klassische Utopien oft nicht aus. Erstens, weil sie allzu leicht ins Totalitäre kippen, „wenn ihre Verwirklichung ohne Rücksicht auf das Individuum und die Gesellschaft geschieht“. Und zweitens, weil sie ein (oft phantastisches) Idealbild eines künftigen Zustands entwerfen, ohne aufzuzeigen, wie dieser Zustand erreicht werden kann. Das führt dazu, dass „utopisch“ meist abwertend im Sinne von „weltfremd und nicht realisierbar“ gebraucht wird. Darunter leidet auch die Science-Fiction, die dann leichtfertig, gerade in den Politikkreisen, statt als Inspiration dafür, sich ambitionierte Ziele zu setzen, zur Fantasterei abgewertet wird.


Können Anti-Dystopien die Science-Fiction retten? Isabella Hermann erklärt, warum das der Fall sein könnte: „Anti-Dystopie […] bietet ein pragmatisches und ermächtigendes Narrativ, das sowohl den resignativen Fatalismus der Dystopie als auch die apodiktische Idealisierung der Utopie relativiert“, so Isabella. Wichtige Unterscheidungsmerkmale der Anti-Dystopie – einer „neuen Erzählart“ – sind beispielsweise, dass sich die Charaktere darin „aktiv der scheinbar aussichtslosen negativen Situation entgegenstellen“. Durch die Anti-Dystopien manifestiert sich ein „Bedürfnis in der Gesellschaft, gegen einen pessimistischen Blick in die Zukunft anzutreten.“


„[A]ls Genre des Widerstands gegen negative Zukünfte“ bedeutet Anti-Dystopie eben auch nicht, dass ebendieser Widerstand „unstrittig oder reibungslos verläuft“. Anti-dystopisches Denken erkennt an, dass es keine endgültigen Antworten gibt – es lädt dazu ein, „neue Lösungsansätze zu finden, auszuprobieren und immer wieder zu hinterfragen.“ Man kann sich jederzeit entscheiden, aktiv eine der Tausenden möglichen Antworten beizusteuern, „ob mit großem Risiko oder mit kleinen Gesten“.


Was die Anti-Dystopie auszeichnet, ist: „Sie beginnt erstens in unseren aktuellen Katastrophen des Anthropozäns, sie entkoppelt zweitens die Katastrophe mit den Werten Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Veränderung von der Dystopie, und sie ist drittens inhärent unperfekt.“

Was sind typische Anti-Dystopien? Um das zu erfahren, sollte man entweder die Analyse von Isabella Hermann in Zukunft ohne Angst selbst lesen – oder gleich in die 1E9-Liste mit den 15 Science-Fiction-Romanen, „die euch durch den Sommer helfen“, von Michael Förtsch schauen und dort eigenständig und systematisch nach den typischen Merkmalen einer Anti-Dystopie Ausschau halten. Doch Vorsicht bei der Einordnung: „Des einen Utopie ist des anderen Dystopie“, warnt Isabella Hermann – und umgekehrt. Hinzu kommt, dass der Begriff der Anti-Dystopie als Genre und Konzept „bisher nicht explizit definiert“ ist. Das ist auch die Motivation, den Anfang einer Definition in Zukunft ohne Angst zu wagen.


Arkadien hat nur in der Werbung überlebt…


„[Die] Misere unserer gegenwärtigen phantastischen Literatur, der Science-Fiction“, sah Stanisław Lem in Eine Minute der Menschheit darin, dass sie „zu wenig phantastisch ist, im Gegensatz zu der uns umgebenden Wirklichkeit“. Überhaupt sah Lem die Werbung als „Neue Utopie“, Gegenstand eines modernen Kults. Bei all den schrecklichen Dingen, die man sich im Fernsehen (heute vermutlich auf Netflix oder Amazon Prime) ansehen müsse – quasselnde Politiker, blutige Leichen, endlose Serien etc. – seien es gerade die Werbespots, „die uns wunderbare Erleichterung und Entspannung bringen“. Schöne Frauen, glückliche Kinder, tiefste Glückseligkeit erzeugendes Toilettenpapier mit Veilchenduft oder ein Schrank, „an dem das einzige Außergewöhnliche der Preis ist“, staufreie Straßen oder omnipräsentes Schönwetter: Nur in der Werbung habe Arkadien überlebt, schreibt Lem in Eine Minute der Menschheit, was keine klassische Erzählung ist, sondern eine Besprechung zum Buch One Human Minute von J. Johnson und S. Johnson.


Nur dass es dieses Buch – wie übrigens auch noch andere Werke aus Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts – bis auf ihre Rezensionen gar nicht gibt. Im Gegensatz zu Zukunft ohne Angst von Isabella Hermann. Und auch wenn wir „in einer Zeit vielfältiger Krisen“ leben und Engagement – ob auf großer Bühne oder im Alltagsleben – besonders anstrengend und risikoreich erscheint, so sollten wir die „Überwindung dystopischer Gegenwart und Zukünfte“ vielleicht doch nicht der Werbung überlassen, sondern der neuen Erzählart, der Anti-Dystopie, eine Chance geben.


Dr. Aleksandra Sowa gründete und leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst Görtz Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Sie ist zertifizierter Datenschutzauditor und IT-Compliance-Manager. Aleksandra ist Autorin diverser Bücher und Fachpublikationen. Sie war Mitglied des legendären Virtuellen Ortsvereins (VOV) der SPD, ist Mitglied der Grundwertekommission und trat als Sachverständige für IT-Sicherheit im Innenausschuss des Bundestages auf. Außerdem kennt sie sich bestens mit Science Fiction aus und ist bei X, ehemals Twitter, als @Kryptomania84 unterwegs.

Aleksandra Sowa

Aleksandra Sowa

Kolumnistin 1E9

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Kommentare (2)

Axel Tiemann
16. Sept.

Ich suche noch nach einem Zukunftsroman, in dem neben den materiellen Werten menschliche Werte wieder einen gleichberechtigten Platz einnehmen, Profilneurotiker langsam am Aussterben sind und alle verstanden haben, dass man Territorien, Bodenschätze und Wirtschaftsräume teilen muss, weil wir alle gleichberechtigte Gäste auf dem Planeten sind. Über passende Literaturhinweise würde ich mich freuen, aber vermutlich muss ich den Roman selber schreiben! ✍️

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Statt von Anti-Dystopien zu schreiben, könnte man auch genauer sein und wahlweise Utopie oder Eutopie nutzen …

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