14. Juli 2025
Was würde passieren, wenn wir Bäume wählen lassen?

Der Experimentalkünstler und Philosoph Jonathan Keats ist der Ansicht, dass auch nichtmenschliche Lebewesen eine Stimme in der Politik verdienen. In einem Kunstprojekt lässt er Menschen zu Vertretern von Bäumen werden. Auch beim Festival der Zukunft von 1E9 und Deutschem Museum in München startete er das Experiment.
Von Michael Förtsch
Es erscheint ziemlich selbstverständlich, dass in einer Demokratie Menschen über Gesetze und Regelungen bestimmen. Das gilt auch für jene, die unsere Natur und alle anderen Lebewesen betreffen. Naturschutzgebiete werden eingerichtet und aufgelöst, Fischfangquoten und CO2- sowie andere Emissionsgrenzen festgelegt und vieles mehr wird entschieden, was die Natur in sehr direkter Weise betrifft. Aber auch scheinbar bezuglose Gesetze können sich auf die Natur auswirken. Dazu zählen beispielsweise Rauchverbote, Geschwindigkeits- und Lärmbegrenzungen oder Regelungen zu den Leuchtstoffen in Straßenlaternen. Laut dem US-amerikanischen Konzeptkünstler und Philosophen Jonathon Keats hat praktisch jede politisch getroffene Entscheidung das Potenzial, die natürliche Welt auf direkte oder indirekte Weise zu prägen. Das sollte vor allem im politisch aktuell aufgeheizten Klima bedacht werden sollte, mahnt er. Er fordert daher, dass in Zukunft auch „die Perspektive von nichtmenschlichen Spezies“ in politische und gesellschaftliche Entscheidungen miteinbezogen werden sollte und hat dafür einen möglichen Ansatz entwickelt.
„Ich denke bereits seit einer ganzen Weile über Demokratie nach“, sagt Keats. „Wie viele andere auch machte ich mir dabei Sorgen, dass sie viele im Stich lässt. Für viele, die keine Menschen sind, ist das aber schon jetzt so.“ Die derzeit gelebte und ausgetragene Demokratie sei in gewisser Weise arrogant, weil sie den Menschen in den Mittelpunkt stellt, meint der Philosoph. Während seiner Forschung am Future Democracies Laboratory an der José State University suchte er daher nach einer Möglichkeit, die demokratischen Prozesse inklusiver zu gestalten. „Ich dachte, es müsste Wege geben, wie wir andere Lebensformen und lebende Systeme möglicherweise in unsere demokratischen Entscheidungsprozesse involvieren können“, so Keats. „Vielleicht auch, um sie dann langfristig als Inspiration für neue demokratische Systeme zu nutzen, die in Zukunft möglich werden.“
Für den Konzeptkünstler waren Bäume als biologische Repräsentanz der logische erste Schritt. „Sie existieren in vielen Umgebungen unseres Planeten und machen einen großen Teil der Biomasse unserer Welt aus“, sagt er. „Und sie reagieren sehr expressiv auf Veränderungen in ihrer Umwelt, was wir auch ablesen können.“ Da ein direkter Weg, sie an demokratischen Prozessen zu beteiligen, unrealistisch war, erdachte Keats eine Alternative: eine Art Meinungsforschungsprojekt, das er The Assembly of Trees taufte. Hierbei werden einzelne Bäume in einer Region als Repräsentanten ihrer Gattung ausgewählt und ihre Entwicklung zurückverfolgt. In regelmäßigen Abständen wird ihr Stresslevel festgestellt, das sich in den Kronen der Bäume manifestiert: Mehr Stress bedeutet weniger Dichte, weniger starke grüne Blätter oder Nadeln. Keats sieht die Möglichkeit, in den Schwankungen des Stresses der Bäume, wenn auch keine Kausalitäten, dann doch immerhin Korrelationen zu politischen Entscheidungen abzulesen.
Repräsentanz - auch für Pflanzen
Das Projekt The Assembly of Trees wurde erstmals im Jahr 2024 in Zusammenarbeit mit dem Museum MOD der University of South Australia umgesetzt. Dabei wurden 23 Bäume in Adelaide ausgewählt, die als Repräsentanten der Stadt agieren. Die Einwohner von Adelaide und ganz Australien sind seitdem eingeladen, herauszufinden, wie die Entwicklungen der Bäume und Verschiebungen im arborealen Landschaftsbild mit Änderungen der Rechtslage in ihrer Stadt, ihrem Bundesstaat und ihrem Land korrelieren – und das mithilfe von historischen und zeitaktuellen Luftbildern. „Lichtere Kronen durch mehr Stress können darauf hindeuten, dass die politischen Umstände suboptimal sind“, sagt Keats. Diese Beobachtungen können die Wähler- und Wählerinnen dann in ihre Entscheidungen einfließen lassen.
Im Rahmen des Festivals der Zukunft 2025 von 1E9 und Deutschem Museum wurde nun auch in München eine Versammlung der Bäume ins Leben gerufen. Ausgewählt wurden Bäume aus verschiedenen Teilen der bayerischen Hauptstadt – darunter der Hofgarten, der Westpark, der Olympiapark und die Museumsinsel. „Wir wollen verstehen, wie die Bäume hier reagieren, das heißt, wie sich die Entwicklung der Bäume hier in der Stadt mit Gesetzen und Bestimmungen verändert“, sagt Keats. Dafür arbeitet das Future Democracies Laboratory mit 1E9 und dem GeodatenService München zusammen. Letzterer stellte Farb- und Infrarotaufnahmen der Baumkronen aus den vergangenen acht Jahren zur Verfügung.
Bei der Münchner Abstimmung von Assembly of Trees sprachen sich die Besucher des Festivals der Zukunft unter anderem für ein Plakatierungsverbot und ein Insektenschutzgesetz aus, lehnten jedoch das Bundeswehrbeschaffungsgesetz ab. Bei der Oktoberfestverordnung von 2023 zeigten sie sich unentschieden.
Während des Festivals konnten die Besucher mit Stimmzetteln über mehrere vergangene Gesetzesvorschläge „auf Grundlage der beobachteten Veränderungen im Stressniveau der Bäume“ evaluieren – und rückwirkend über diese abstimmen. Darunter ein Verbot der Fütterung von Tauben, eine Plakatierungsverordnung, das Cannabisfolgenbegrenzungsgesetz in Bayern oder das umstrittene Polizeiaufgabengesetz: auch wenn nicht direkt, dann doch vielleicht indirekt könnten diese Einfluss auf den Stress der Bäume gehabt haben. „Wir sind noch dabei, die Ergebnisse zu analysieren“, sagt Keats. Laut dem Künstler komme es aber nicht auf die eigentlichen Ergebnisse der Abstimmung an, sondern darauf herauszufinden, ob ein solcher Prozess überhaupt umsetzbar ist, ob er mit den Menschen räsoniert und zu einem „besseren Funktionieren der Demokratie führen kann“.
Wider dem menschlichen Exzeptionalismus
Laut dem Philosophen Jonathon Keats löst die Kernidee von The Assembly of Trees durchaus etwas aus – zumindest bei einigen Personen. „Was ich höre, ist, dass die Menschen sensibler für die nicht-menschlichen Bestandteile ihrer Stadt werden und dies dann in ihre Entscheidungsfindung einfließt“, sagt er. Genau das wolle er auch erreichen. Denn Veränderungen geschehen nicht unmittelbar. Sie müssten in eine Bewegung münden, die dann in einen politischen Willen übergeht, der sich schließlich manifestieren kann. „Was passiert: Dieses Experiment regt einen Denkprozess bei den Menschen an. Sie beginnen, Dinge zu erkennen und zu hinterfragen“, meint Keats. „Sie hinterfragen den hegemonialen Status der Menschheit und ob dieser sinnvoll ist, ob der menschliche Exzeptionalismus gerechtfertigt ist. Ich glaube, das wird Auswirkungen haben.“
Ob es in Zukunft eine Stimme für nichtmenschliche Lebewesen in der Politik geben wird, darüber mag Keats nur bedingt spekulieren. Er hält jedoch einen Schritt in diese Richtung für essenziell, um Fairness und ganzheitliches ökologisches Handeln zu ermöglichen. Ob dies nach dem Vorbild von The Assembly of Trees oder nach vollkommen anderen, vielleicht bisher technologisch noch unvorstellbaren Methoden geschieht, sei dabei unerheblich. „Jeder, der von der Politik betroffen ist, sollte das Recht haben, mitzuentscheiden“, sagt er. „Da sich unsere Politik praktisch auf das gesamte Leben auf der Erde auswirkt – Auswirkungen, die vielfach vollkommen negativ sind –, müssen wir auch andere Lebewesen als uns selbst mit einbeziehen. Das wird eine Herausforderung, das wird viele Debatten brauchen, aber es muss geschehen.“

Michael Förtsch
Leitender Redakteur
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