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8. Juli 2025

In einem sterbenden Schweizer Dorf steht der größte 3D-Druck-Turm der Welt


Bis vor Kurzem hatte wohl kaum jemand vom Örtchen Mulegns in der Schweiz gehört. Doch jetzt ist das aus nur zwölf Einwohnern bestehende Dorf zu einer weltweiten Attraktion geworden. Denn dort steht der bislang größte 3D-Druck-Turm der Welt. Er soll Mulegns wieder relevant machen. Das scheint zu gelingen.

 

Von Michael Förtsch


Von Mulegns ist nicht mehr viel übrig. Einst lebten über 140 Menschen im Dörfchen am Julierpass, das von Wäldern und Bergen wie dem Piz Forbesch und dem Piz Calderas umgeben ist. Reisende, Kuriere und Postkutscher legten im 19. Jahrhundert auf den Wegen durch die zerklüftete Landschaft dort ihre Pausen ein und wechselten an den weitläufigen Stallungen ihre Pferde. Etwa, um in das 28 Kilometer entfernte St. Moritz zu gelangen, das heute als Luxus-Skiort bekannt ist. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Trasse für die Albulabahn fertiggestellt wurde, begann die auf 1.500 Metern Höhe gelegene Gemeinde zu schrumpfen. Heute sind gerade einmal noch zwölf Menschen dort zu Hause – und womöglich könnte Mulegns in den kommenden Jahrzehnten komplett verschwinden. Ein ehrgeiziger und eigenwilliger Bau, der nun in dem Dörfchen aufragt, soll genau das verhindern.

 

Der Tor Alva ist im Grunde erst einmal nur ein Turm. Aber er sieht aus wie eine außerirdische Pflanze, die zwischen den wenigen noch bestehenden Häusern und direkt neben einem gerade erst restaurierten Hotel aus einer ehemaligen Kutschenremise in die Höhe wächst. Mit seiner skelettartigen Struktur und der glänzend weißen Farbe scheint er nicht zum Rest der Kulisse zu passen. Mit über 24 Metern ist er zudem das bei weitem höchste Gebäude im Umkreis von mehreren Kilometern. Der Tor Alva ist außerdem das bislang höchste Gebäude, das in einem 3D-Druck-Verfahren entstand. Konstruiert wurde er von Michael Hansmeyer und Benjamin Dillenburger. „Benjamin ist Professor für Digital Building Technologies am Institut für Technologie in der Architektur an der ETH Zürich“, sagt Hansmeyer im Gespräch mit 1E9. „Ich bin Architekt und habe mich auf Computational Architecture sowie die Erforschung komplexer geometrischer Formen durch algorithmische Prozesse spezialisiert.“

 

Die Initiative für die architektonische Wegmarke an diesem abgeschiedenen Ort kam von anderer Seite. Vor 20 Jahren gründete der Theatermacher Giovanni Netzer die Stiftung Nova Fundaziun Origen, um aussterbende historische Gemeinden mittels Kunst, Kultur und Handwerk wiederzubeleben. So hat die Stiftung alte Scheunen wiederaufgebaut und mit Bühnen ausgestattet und sogar eine Burg in ein Theater verwandelt. Auch einen Turm hat die Stiftung schon einmal erbaut. 2017 wurde dieser direkt an einer Straße über den Julierpass aus Holz errichtet und feuerrot verkleidet. Nach rund 300 Konzerten und Theateraufführungen musste er jedoch 2023 wieder abgebaut werden. Der Bau war nur als temporäre Installation geplant und genehmigt, stellte sich jedoch als großer Erfolg heraus. Der weiße Turm soll diese Bilanz fortsetzen.

 

Mehr als nur Schauwert

 

Laut Michael Hansmeyer wurde die Idee für den Turm „in Zusammenarbeit mit der Nova Fundaziun Origen“ ausgearbeitet. Wie der rote Turm soll er als Bühne dienen. Durch seine einzigartige Natur soll er Neugierige und Architekturbegeisterte in die abgelegene Gegend locken. Anstatt ihn wie ein klassisches Bauwerk zu entwerfen, wurde ein vollständig generativer Ansatz verfolgt. Dafür wurden Vorgaben und Parameter für den Turm definiert und dieser dann durch ein skriptgesteuertes Computerprogramm generiert. Dies geschah nicht ein-, sondern dutzende Male, bis das Ergebnis passte. „Wir haben viele Iterationen durchlaufen“, sagt Hansmeyer. „Unser Ziel war es aber immer, eine Form zu finden, die die Potenziale des 3D-Drucks maximal nutzt und gleichzeitig eine eigene Sprache entwickelt.“ Als Computermodell und mittels Virtual Reality wurden diese Turmentwürfe vom Team erkundet und beurteilt.



Heraus kam letztlich, ein osteoporotisches hohles Säulengerippe mit einer schmalen Basis, das sich über vier Geschosse samt Kutschenremise als Erdgeschoss zur obersten Kuppel hin verbreitert, die ein Podium mit über 30 Sitzplätzen bietet. Die 32 tragenden Säulen des Turms sind mit vollkommen individuellen wellen- und knochenartigen Ornamenten verziert. Die sind zum Teil als von der „Handwerkskunst der Barockmeister Graubündens“ inspiriertes Designelement geplant, das je nach Sonnenstand die Form und Höhe des Gebäudes betonen soll. Zum Teil sind sie aber auch Folge der notwendigen strukturellen Verstärkungen und des 3D-Druck-Prozesses. Laut Michael Hansmeyer ist die Geometrie des Turms hochoptimiert. „Wir verwenden nur dort Material, wo es strukturell notwendig ist“, sagt er. Nichts an dem Turm sei überflüssig oder nur als reiner Schauwert gestaltet. Eher das Gegenteil sei der Fall.

 

Die Umsetzung des Entwurfs stellte durchaus eine Herausforderung dar. Denn der Turm konnte nicht vor Ort und in einem Stück konstruiert werden. Die Konstruktion wäre zu hoch und das Gelände zu eng gewesen, um sie mit 3D-Druckern hochzuziehen. Außerdem sollte das Gebäude versetzbar sein. Daher musste der Turm in einzelne Elemente aufgeteilt werden.  „Der Turm besteht aus 124 3D-gedruckten Elementen“, sagt Hansmeyer. Jedes davon wurde in einer Fertigungsanlage von zwei Roboterarmen mit einem speziell dafür entwickelten Beton gedruckt. „Ein Roboterarm extrudiert den Beton schichtweise in komplexe Freiformgeometrien, während ein zweiter Roboter gleichzeitig Bewehrungsstahl zwischen den Schichten platziert“, so Hansmeyer weiter. Insgesamt wurden 2.500 Betonschichten gedruckt, was einer Druckzeit von etwa 900 Stunden entspricht.

 

 Mobiler Turm

 

Etwa fünf Monate dauerte die Anfang 2024 begonnene Herstellung der einzelnen Bauelemente und deren Prüfung auf dem ETH-Campus Hönggerberg. Anschließend wurden die 3D-Drucke, die Montageelemente und die Ausstattung für die Bühne im obersten Turmabschnitt mit LKW über die bergigen Straßen nach Mulegns transportiert. „Die Montage vor Ort war dann beeindruckend schnell“, sagt Michael Hansmeyer. „Jede der vier Ebenen konnte in nur einem Tag montiert werden.“ Einfache Schrauben halten alles zusammen und sollen auch eine schnelle und unkomplizierte Demontage ermöglichen. Denn der weiße Turm soll zunächst nur für fünf Jahre stehen. Danach soll er wieder abgebaut werden – mit der Option, ihn an einem anderen Ort wiederaufzubauen.

 

Der Turm wurde bereits im Mai dieses Jahres feierlich enthüllt und eröffnet. Er dient sowohl als Veranstaltungsort als auch als Bühnenbild. Dort werden nun Mozart und Calderón aufgeführt. Ebenso werden Vorträge über das Bauen der Zukunft gehalten. Das hat Mulegns bereits einen regelmäßigen Zufluss an Besuchern und viel Beachtung gebracht, auch international. Allerdings ist diese nicht nur positiv. Vor allem auf Social-Media-Plattformen gibt es durchaus Kritik und Häme. Der Turm wird als hässlich bezeichnet und als „Architekturschund“ sowie hohles Phallussymbol beschrieben. Auch die Worte „Alpenpimmel” und „Dorfdildo” finden sich in den Kommentaren zu Berichten und Bildern von Tor Alva.

 

„Wir verstehen, dass der Turm polarisiert und dass seine ungewöhnliche Form nicht jedem gefällt“, sagt Michael Hansmeyer. Das sei auch gut so, bestärkt der Architekt. Jeder könne seine Meinung abgeben und sei eingeladen, seine Empfindungen zum Turm zu teilen. Der Austausch sei wichtig. Schließlich sei der Turm neben seiner kulturellen Funktion auch als Beitrag zum Diskurs über die Zukunft des Bauens und die Rolle digitaler Technologie gedacht. „Der Turm wirft fundamentale Fragen auf“, sagt Hansmeyer. „Wie werden wir in Zukunft bauen? Welche Rolle spielen digitale Technologien? Und wie kann Architektur über ihre reine Funktion hinausgehen und zum Ausdruck von Kreativität und Innovation werden?“


Bilder: Benjamin Hofer, Andrei Jipa, Hansmeyer/Dillenburger, CheWei Lin, Nijat Mahamaliyev

Michael Förtsch

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