6. Oktober 2025
Chatkontrolle 2.0: Wie Patrick Breyer gegen EU-Überwachungspläne kämpft

In Brüssel stehen entscheidende Wochen an. Am 14. Oktober soll der EU-Rat über die umstrittene Chatkontrolle beraten. Für Kritiker ist sie ein Angriff auf die Privatsphäre von Millionen Menschen, für Befürworter ein notwendiges Instrument im Kampf gegen Kindesmissbrauch. Patrick Breyer, Jurist, Richter und einer der bekanntesten Digitalrechtsaktivisten Europas, erklärt im 1E9-Interview, warum es dabei um nicht weniger geht als um die Zukunft der digitalen Grundrechte.
Ein Interview von Krischan Lehmann
In Abgrenzung zu den vielen kollektivistischen und totalitären Systemen der Welt hat sich Europa immer als ein Hort der Aufklärung betrachtet – in dem individuelle Freiheitsrechte geachtet werden und die Privatsphäre des Menschen besonders geschützt ist. Doch für Patrick Breyer sind diese Grundwerte in höchster Gefahr: "Mit der drohenden Chatkontrolle stehen wir am Rande eines Überwachungsregimes, wie es nirgendwo sonst in der freien Welt existiert. Nicht einmal Russland und China haben es geschafft, Wanzen in unsere Smartphones einbauen zu lassen, wie es die EU beabsichtigt."
Doch das sei lange nicht das einzige Ungemach, das der besonders datenschutzaffinen deutschen Bevölkerung von Seiten der EU-Bürokratie droht. Patrick Breyer weiß, wovon er spricht. Als Europaabgeordneter der Piratenpartei hat er jahrelang gegen die Einführung der Chatkontrolle und die Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung gekämpft – und dabei bedeutende Etappensiege errungen. Im Interview mit 1E9 erzählt er von den gefährlichen Allmachtsfantasien der Sicherheitsbehörden, erklärt die Rolle Deutschlands im EU-Machtpoker und wie – gerade in Zeiten von allgegenwärtiger KI – eine sichere digitale Welt aussehen könnte, die unsere Freiheit nicht opfert.
1E9: Du bezeichnest dich selbst als "digitalen Freiheitskämpfer". Kannst du uns einen Überblick geben, an welchen Fronten du gerade kämpfst und wo du unsere digitalen Freiheiten am stärksten bedroht siehst?
Patrick Breyer: Auf EU-Ebene sind es vor allem drei große Fronten, die mir Sorge bereiten. An erster Stelle steht natürlich die Chatkontrolle. Wenn sie so käme wie gerade vorgeschlagen, würde zum ersten Mal in einer Demokratie weltweit der Inhalt aller privaten Nachrichten flächendeckend durchsucht. Solche Systeme kennen wir sonst nur aus autoritären Staaten wie China, wo beispielsweise die Chat-App WeChat gescannt wird – aber eben nicht nur nach strafbaren Inhalten, sondern auch, ob man den Staatspräsidenten kritisiert. Ich habe gehört, dass deswegen jetzt oft Cartoons von Pu der Bär benutzt werden, um sich über ihn lustig zu machen. Und in Russland versucht man gerade, die Bürger in eine offizielle Messenger-App zu zwingen, die vom Staat dann entsprechend überwacht wird.
Zweitens sind da die Bestrebungen zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. Die Pläne der EU gehen weit über das hinaus, was in Deutschland diskutiert wird. Hier plant die schwarz-rote Koalition, IP-Adressen auf Vorrat zu speichern. Es soll mindestens drei Monate lang nachvollziehbar sein, wofür ich mich im Internet interessiert, was ich gesucht oder worauf ich geklickt habe. Damit könnte man sehr intime Details meiner Internetnutzung rekonstruieren.
1E9: Und was hat sich die EU dazu ausgedacht?
Patrick Breyer: Es soll eine Identifizierungspflicht geben. Das würde also bedeuten, dass man sich künftig mit einem Ausweis identifizieren muss, wenn man ein E-Mail-Konto eröffnet oder eine Messenger-App benutzt. Und das wäre das Ende der anonymen Kommunikation – die aber für Whistleblower, politische verfolgte Menschen, aber auch Leute, die einfach nur vertrauliche Beratungen suchen, unerlässlich ist. Gerade Frauen oder Kinder wollen sich oft nicht als solche kenntlich machen und sind in bestimmten Settings gerne anonym unterwegs. Zum anderen überlegt die EU gerade, die Vorratsdatenspeicherung auf Messenger auszuweiten, sodass monatelang nachvollziehbar wäre, wer mit wem in Kontakt war – egal, was man wieder löscht.
1E9: Das hätte dich damals als Europabgeordneter vermutlich auch stark betroffen.
Patrick Breyer: Natürlich. Ich bin auf Informanten angewiesen gewesen. Gerade Beamtinnen und Beamte dürfen ja eigentlich bestimmte Informationen nicht herausgeben. Aber es ist wichtig, dass sie keine Nachteile befürchten müssen, wenn dadurch gravierende Missstände bekannt werden. Auch für die Presse ist es essenziell, anonyme Quellen schützen zu können. Es ist gefährlich, wenn man beispielsweise nach einer Presseveröffentlichung einfach nachschauen kann, wer mit der Presse in Kontakt war.
1E9: Das klingt alles nicht gut, aber du hast sogar noch eine dritte Front erwähnt...
Patrick Breyer: Ja, das "Going Dark"-Programm. Hier haben die EU-Regierungen eine Expertengruppe eingesetzt – aus der Angst heraus, dass Verschlüsselung und Anonymisierungsdienste im digitalen Raum die Strafverfolgung unmöglich machen. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Im analogen Zeitalter wusste man ja nie, wer mit wem wann gesprochen hat. Heute ist alles sehr viel leichter überwachbar, die Ermittler haben trotz Verschlüsselung und Anonymisierung so viele Daten zur Verfügung wie nie zuvor. Aber eben nicht immer. Und das gefällt ihnen nicht. Sie wollen in jeden privaten Raum bei Bedarf eindringen und alles rekonstruieren können.
Deswegen sieht das "Going Dark"-Programm einen langen Forderungskatalog mit über 40 Punkten vor. Es soll zum Beispiel möglich sein, dass verschlüsselte Daten auch wieder entschlüsselt werden können – was Verschlüsselung logischerweise für alle unsicher machen würde. Denn so eine Hintertür gibt es dann ja nie nur für die Guten, sondern auch für Kriminelle oder ausländische Geheimdienste.
Außerdem will man Software auf Knopfdruck überwachbar machen und sogar aus der Ferne die Lokalisierung eines Smartphones anschalten können. Das birgt ein riesiges Missbrauchspotenzial und betrifft dann auch das ganze sogenannte Internet der Dinge. Alle neuen Produkte sollen von vornherein abhörbar gestaltet werden. Und da diese Geräte auch in unseren Wohnungen zum Einsatz kommen, Stichwort: Smart Home, könnte man dann sogar in unserer Privatsphäre unser Verhalten genau nachvollziehen. Das nennen die EU-Bürokraten übrigens "Security by Design".

Dr. Patrick Breyer ist Jurist, Digitalrechtsaktivist und ehemaliger Abgeordneter des Europäischen Parlaments für die Piratenpartei in Deutschland. Er war von 2019 bis 2024 Mitglied des Ausschusses für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Zuvor war er von 2012 bis 2017 Abgeordneter im Schleswig-Holsteinischen Landtag. Breyer gilt als einer der führenden Kämpfer für digitale Rechte und Privatsphäre in Europa. Er ist im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung aktiv und betreibt das Informationsportal chatkontrolle.de. Aktuell arbeitet er wieder als Richter am Landgericht in Kiel.
1E9: Kommen wir doch noch mal zur Chatkontrolle zurück. Du warst ja 2023 federführend daran beteiligt, dass sie einstimmig vom Tisch kam. Warum ist das Thema jetzt wieder akut?
Patrick Breyer: Dazu muss ich kurz ausholen: Der ursprüngliche Gesetzesvorschlag kam 2022 von der EU-Kommission, und zwar nach sehr undurchsichtigen Gesprächen mit Lobbyisten. Da gab es zum Beispiel eine undurchsichtige Stiftung aus der Schweiz, die plötzlich mit Millionenspritzen eine Kinderschutzorganisation aus dem Boden gestampft hat. Und solche außereuropäischen Organisationen haben dann PR-Agenturen beauftragt, um Druck und Werbung in Europa zu machen – was bei solchen Themen völlig unüblich ist. Es gibt also eine richtige Verflechtung, die hinter diesem Vorschlag steht, weil die Tech-Industrie, aber natürlich auch die Strafverfolgung und die ausländischen Geheimdienste ein Interesse an den Daten haben.
Es ist ja so, als würde man jeden Brief bei der Post öffnen, nur um nachzusehen, ob da vielleicht etwas Strafbares drin ist.
1E9: Und wie hat das Parlament darauf reagiert?
Patrick Breyer: Im Parlament habe ich es als Vertreter der Piratenpartei in meiner Fraktion – der auch die Grünen, Volt, die Partei und viele andere angehören – geschafft, die Verhandlungen zu führen. Und es war extrem viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn am Anfang fanden fast alle aus dem gesamten Parteienspektrum den Vorschlag der Kommission toll. Also musste ich auch innerhalb der anderen Fraktionen, besonders bei den Konservativen und Liberalen, Bündnisse schmieden. Mit Leuten, die verstehen, was Chatkontrolle tatsächlich bedeutet: Es ist ja so, als würde man jeden Brief bei der Post öffnen, nur um nachzusehen, ob da vielleicht etwas Strafbares drin ist.
Am Ende haben wir im Parlament einen Kompromiss erzielt, der diesen Vorschlag wirklich auf links drehen würde: Die Chatkontrolle soll gestrichen werden. Stattdessen ist jetzt vorgesehen, dass nur Personen oder Gruppen bei konkretem Verdacht auf richterliche Anordnung hin gezielt überwacht werden dürfen. Wir haben auch den Schutz verschlüsselter Dienste und die Ablehnung einer verpflichtenden Altersverifikation durchgesetzt. Letztlich haben alle Fraktionen diesem Kompromiss zugestimmt – von links bis rechts, was im Europäischen Parlament sehr selten ist.
1E9: Und trotzdem ist das Thema nicht vom Tisch?
Patrick Breyer: : Leider nein. Der im EU-Parlament erzielte Kompromiss ist nur der Ausgangspunkt künftiger Verhandlungen mit dem EU-Rat, also den Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten, über den finalen Gesetzestext. Der derzeitige Stand ist, dass der EU-Rat berät, wie er sich die Verordnung vorstellt. Und die meisten EU-Regierungen, allen voran Länder wie Frankreich, Spanien, Schweden, Dänemark oder Irland, stehen voll und ganz hinter dem ursprünglichen Verordnungsentwurf, der wirklich radikal ist. Denn er soll für alle Nachrichten und alle Kommunikationsmittel, auch die Ende zu Ende verschlüsselten Messenger gelten. Stichwort WhatsApp, Signal, iMessage und so weiter.
Das würde bedeuten, dass man als User immer damit rechnen muss, dass der eigene Chat vom Algorithmus irrtümlich als verdächtig angesehen und an eine EU-Behörde weitergeleitet wird. Aber Daten aus Deutschland besagen, dass etwa 48 Prozent der Hinweise, die bereits heute bei unverschlüsselter Kommunikation von US-Anbietern an das BKA gehen, gar nicht strafrechtlich relevant sind. Das können intime Bilder sein, die sich Paare schicken, oder Familienfotos, auf denen die eigenen Kinder zu sehen sind, wie sie am Strand spielen.
Einmal ist eine Aufnahme des Genitals eines Jungen in diesem Raster hängengeblieben, die ein Elternteil einem Arzt geschickt hat, um sich Rat zu holen. Und obwohl das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, verlor die Person den kompletten Zugang zu all ihren beruflichen und privaten Google-Diensten. Es kann also schon katastrophale Auswirkungen haben, wenn man nur unschuldig in Verdacht gerät.
Es handelt sich hier also um einen Präzedenzfall mit Auswirkungen auf die Internetsicherheit weltweit.
1E9: Wie verhält sich Deutschland zu diesen Plänen?
Patrick Breyer: Da sind im Moment CSU-Innenminister Alexander Dobrindt und die SPD-Justizministerin Stefanie Hubig am Verhandeln. Das Innenministerium findet das einen tollen Vorschlag, den man mit kleinen Änderungen so machen sollte. Das Justizministerium hingegen versteht, dass es gegen unsere Grundrechte verstößt und gar nicht rechtlich machbar ist. Und jetzt besteht die Gefahr, dass das Thema der SPD doch nicht so wichtig ist und sie etwas anderes dafür eintauscht. Dass ein fauler Kompromiss rauskommt. Deutschland hat eine Schlüsselrolle für die sogenannte Blockademinderheit. Staaten wie Polen, Luxemburg, Österreich sind schon dagegen. Jetzt ist Deutschland bei der Abstimmung im Rat am 14. Oktober voraussichtlich das Zünglein an der Waage.
Und man darf sich nichts vormachen: Wenn die Hersteller erfolgreich gezwungen werden, Überwachungsfunktionen in ihre Apps einzubauen, werden das auch andere Staaten von ihnen verlangen. Als nächstes ist bestimmt Russland dran und die verwenden das dann zu ganz anderen Zwecken. Es handelt sich hier also um einen Präzedenzfall mit Auswirkungen auf die Internetsicherheit weltweit.
1E9: Immerhin kommen danach ja noch die Verhandlungen mit dem EU-Parlament.
Patrick Breyer: Ich habe viele von diesen Trilog-Verhandlungen geführt und ich habe keine einzige erlebt, wo sich das Parlament mal im Endeffekt quergestellt hätte. Am Ende wollte man immer irgendein Ergebnis erzielen. Und natürlich will das Parlament nicht dafür verantwortlich sein, dass eine Maßnahme zum Kinderschutz auf der Strecke bleibt.
Es gibt einen großen konservativen und rechten Block, der umkippen könnte, auch Liberale. Es gibt aber auch viele sozialdemokratische Parteien in Europa, die da mitmachen könnten. Dänemark zum Beispiel hat den Ratsvorsitz inne, pusht das Thema extrem im Moment und ist sozialdemokratisch regiert. Auch Ylva Johansson, die schwedische EU-Kommissarin, die das Thema auf den Weg gebracht hat, ist Sozialdemokratin. Meine Erwartung ist: Wenn Deutschland umfällt und der Rat umfällt, dann ist das Parlament als nächstes dran.
1E9: Du hast schon erwähnt, dass das Hauptargument für die Chatkontrolle der Schutz von Kindern ist, was ja ein äußerst wichtiges Anliegen darstellt, gerade im kaum zu überblickenden digitalen Raum.
Patrick Breyer: Der Schutz von Kindern ist ein absolut wichtiges Anliegen. Aber die Chatkontrolle ist der falsche Weg. Wenn wir unsere Kinder besser vor Missbrauch schützen wollen, müssen wir an die Leute ran, die den Missbrauch begehen, die ihn zum Beispiel auf Video aufnehmen. Aber das erreichen wir nicht mit der Chatkontrolle, denn die sucht nach denjenigen, die das Material weiter verbreiten. Die Missbrauchstäter organisieren sich eben nicht über Messengerdienste, sondern zum Beispiel über Internetforen, die sie selber einrichten und im Darknet betreiben, wo natürlich keine Chatkontrolle stattfindet und auch nie stattfinden wird.
Und in der Regel wird das Material verschlüsselt und bei einem kommerziellen Upload-Dienst hochgeladen. Nur der Link dahin und die Passwörter werden in den Darknet-Foren verteilt. Jetzt kann man zwar die File-Hoster zur Chatkontrolle verpflichten, sie werden aber nichts finden, weil die in Archiven verschlüsselten Bilder und Videos gar nicht auswertbar sind. Auch die Links zu Archiven sind beliebig austauschbar.
1E9: Wie kommt man dann an die Täter ran?
Patrick Breyer: Man muss zum Beispiel undercover ermitteln und selber so tun, als ob man Teil der Szene ist. In Deutschland gibt es eine Strafrechtsänderung, wonach Strafverfolger KI-generiertes Missbrauchsmaterial benutzen dürfen, um sich in solche Foren einzuschleusen. Oder man übernimmt bestehende Konten von Nutzern, die schon überführt wurden. Oder man übernimmt sogar ganze Plattformen – was auch schon öfters gelungen ist.
Aber diese Ermittlungen sind extrem schwierig. Man braucht einen hohen Personaleinsatz. Kürzlich habe ich gelesen, dass allein beim LKA in Nordrhein-Westfalen 70 Beamte damit beschäftigt sind, solchen Missbrauchsfällen nachzugehen. Aber die sagen, dass sie mit den Hinweisen aus der freiwilligen Chatkontrolle, die von US-Diensten wie Meta für unverschlüsselte Nachrichten geliefert werden, heute schon so überlastet sind, dass sie gar keine Zeit mehr für verdeckte Ermittlungen haben.
Aufgrund der geplanten neuen Maßnahmen erwartet die EU-Kommission einen Anstieg der Verdachtsmeldungen um 350 Prozent. Das heißt, da wo unsere Strafverfolgung heute schon am Limit ist, soll sie in Zukunft total überflutet werden. Da ist Chatkontrolle also kontraproduktiv.
Bei Milliarden von Nachrichten pro Tag ist selbst eine Treffergenauigkeit von 99,9% nicht genug. Das ist ein einfaches mathematisches Phänomen.
1E9: Was glauben die Befürworter der Chatkontrolle denn konkret erreichen zu können?
Patrick Breyer: Es herrscht der Glaube vor, dass Technologie den Austausch von solchem Material prinzipiell verhindern kann. Aber man wird das nie verhindern können. Denn selbst wenn die Chatkontrolle käme, gibt es natürlich Messenger, die peer-to-peer funktionieren, also nicht über einen zentralen Anbieter laufen. Wenn man solche nutzt, ist Chatkontrolle nicht verpflichtend – ebenso wie bei nicht-kommerziellen Open Source-Apps. Deswegen wird es für interessierte Kreise und Kriminelle immer die Technik geben, sich untereinander geschützt auszutauschen.
Internationalen sozialen Netzwerken gelingt es trotz freiwilliger Chatkontrolle nicht einmal, bekannte illegale Bilder auf den Plattformen einzudämmen oder gar von ihnen fernzuhalten. Außerdem muss man – davor haben Hunderte von Wissenschaftlern zuletzt wieder gewarnt – solche Darstellungen nur leicht abändern und die Erkennungsalgorithmen können das Bild oder Video nicht mehr wiedererkennen. Umgekehrt kann man harmloses Material so manipulieren, dass es die gleiche Signatur wie gesuchtes Material aufweist, und plötzlich legt ein Haufen Falschmeldungen die Behörden lahm. Bei Milliarden von Nachrichten pro Tag ist selbst eine Treffergenauigkeit von 99,9% nicht genug. Das ist ein einfaches mathematisches Phänomen.
Und selbst da, wo die Meldungen richtig sind, kann das System die Intention falsch beurteilen: Beispielsweise wurde ein Junge von einer Biene in die Genitalien gestochen und das Video dazu wurde massenhaft geteilt, weil es die Leute witzig fanden. Und was auch wichtig ist: Etwa 40 Prozent der Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie richten sich gegen Minderjährige, die meist einfach unbedarft sind. Mit diesen Ermittlungen werden also Jugendliche oft selbst kriminalisiert.
1E9: Anstelle der Chatkontrolle habt ihr ein ganz anderes Konzept von "Security by Design". Was genau verbirgt sich dahinter?
Patrick Breyer: Anstatt alle Nachrichten zu scannen, will das EU-Parlament, dass Apps von Grund auf sicherer und datenschutzfreundlicher gestaltet werden. Profile sollten zum Beispiel nicht automatisch öffentlich sichtbar sein. Apps sollten nachfragen, bevor sie persönliche Kontaktdaten verschicken oder potenziell problematische Inhalte wie Nacktheit anzeigen. Solche Mechanismen sollen "on-device" funktionieren, also direkt auf dem Gerät des Nutzers, ohne dass Daten an Dritte weitergegeben werden. Es geht darum, die Nutzer zu befähigen und zu schützen, anstatt sie unter Generalverdacht zu stellen.
1E9: Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch der Schutz vor "Grooming".
Patrick Breyer: Genau. Grooming ist der Prozess, in dem Straftäter versuchen, Minderjährige zu überzeugen oder zu erpressen, sexuelle Bilder von sich zu machen und herauszugeben. Das ist ein Riesenproblem. Inzwischen ist der häufigste Inhalt von Missbrauchsdarstellungen im Netz das sogenannte "selbst generierte Material". Um Grooming vorzubeugen, braucht es neben Prävention und Aufklärung eben auch die von mir beschriebenen technische Vorkehrungen. Wir haben eine Umfrage unter Minderjährigen europaweit in Auftrag gegeben, wie sie im Netz geschützt werden möchten. Mit riesengroßer Mehrheit wünschen sie sich erstens, dass ihre Meldungen ernst genommen werden, und zweitens Aufklärung über typische Täterstrategien. An diesem Punkt sollten wir ansetzen.
Es gibt Bereiche in unserer Gesellschaft, wo man sich absolut vertraulich zusammensetzen können muss.
1E9: Lass uns noch einmal grundsätzlicher werden und über die moderne Kryptographie sprechen. Früher hat man diese als klassisches Katz- und Mausspiel betrachtet: Ein neues Verfahren zum Verschlüsseln wird entwickelt und irgendwann geknackt. Heute sind diese Verschlüsselungen praktisch unknackbar geworden. Ja, die Quantencomputer könnten helfen, aber es gibt bereits quantenresistente kryptographische Verfahren. Wie sollten wir als Gesellschaft über digitale Räume denken, die durch Kryptographie eigentlich unregulierbar werden?
Patrick Breyer: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Jahr 2024 klar festgestellt, dass es nicht gerechtfertigt ist, Verschlüsselung zu schwächen oder generell zu verbieten, weil so viele Menschen in unserer Gesellschaft auf starke Verschlüsselung angewiesen sind, um ihre Privatsphäre zu schützen, und weil es alternative Ermittlungsmethoden gibt.
Und man muss ganz ehrlich sagen: Es war noch nie möglich, alle Straftäter zu überführen. In Deutschland liegt die durchschnittliche Aufklärungsquote bei etwas über 50 Prozent. Wer eine Straftat begeht, muss also mit einer 50-prozentigen Chance rechnen, überführt zu werden. Und bei der nächsten Straftat gilt wieder dieselbe Quote. Also es ist schon ziemlich wahrscheinlich, dass man solchen Straftätern im Laufe der Zeit auf die Spur kommt. Aber 100% ist nicht erreichbar, offline nicht und online eben auch nicht. Damit müssen sich die Behörden abfinden. Sie wollen aber ein Maß der Überwachung, das an die Stasi oder noch schlimmere Regime erinnert – und das können wir nicht akzeptieren.
Folglich muss man ertragen, dass es private Räume gibt, die nicht überwachbar sind. Auch Wohnungen werden in Deutschland nur sehr selten, unter extrem hohen Voraussetzungen überwacht. Es gibt Bereiche in unserer Gesellschaft, wo man sich absolut vertraulich zusammensetzen können muss. Solche Rückzugsräume sind wichtig für uns – für unsere psychische Gesundheit, für Beratung, für Whistleblower, für politische Aktivisten.
1E9: Wir haben aber im Laufe der Digitalisierung oft gesehen, dass das Problembewusstsein für Datenschutz in der breiten Öffentlichkeit nicht besonders hoch ist. Die meisten von uns zahlen im Netz mit ihren Daten, ohne mit der Wimper zu zucken, etwa in den sozialen Netzen. Und oft lamentieren wir darüber, wenn unsere Daten nicht genug verknüpft sind, beispielsweise wenn wir in einem Formular dem Staat oder dem Arzt zum x-ten mal sagen müssen, wann und wo wir geboren sind. Wie sieht für dich eine bequeme, aber sichere Online-Welt aus?
Patrick Breyer: Nehmen wir das Beispiel der elektronischen Identität, der eID. Anstatt eine eindeutige Personenkennung zu haben, die bei allem, was ich online mache, übertragen wird und eine komplette Durchleuchtung meiner Aktivitäten ermöglichen würde, gibt es datenschutzfreundliche Alternativen. Technisch ist es möglich, für jeden Dienst ein anderes Pseudonym, eine andere Kennziffer, zu vergeben. So bin ich zwar für den jeweiligen Dienst eindeutig erkennbar, aber Facebook oder Google können nicht nachvollziehen, was ich sonst noch online tue.
Ein Anbieter sollte auch nur die Daten von meinem digitalen Ausweis ablesen können, die gerade auch wirklich erforderlich. Und der Nutzer sollte gefragt werden und eine Wahl haben, bevor Daten aus dem digitalen Ausweis übertragen werden. Außerdem sollte man weiterhin das Recht haben, Dienste pseudonym oder gar anonym zu nutzen. Die große Gefahr einer zu bequemen eID ist, dass plötzlich auch Dienste, die heute ohne Anmeldung nutzbar sind, eine Identifizierung verlangen – nach dem Motto: "Ist ja nur ein Klick." In der idealen Welt würde ich mir ein System wünschen, das ich an jeder Stelle steuern kann, wenn ich das will, und mitentscheiden kann, wie es sich in bestimmten Situationen verhält.
Wir dürfen nicht alles ausschöpfen, was technisch machbar ist, sondern sollten uns immer fragen: Welche Rolle soll Technologie haben – und welche wollen wir ihr überhaupt geben?
1E9: Mit der Künstlichen Intelligenz haben wir jetzt einen neuen Elefanten im digitalen Raum. Welche Gefahren siehst du da im Bereich Datenschutz und Privacy auf uns zukommen? Wofür sollten wir uns wir am besten jetzt schon sensibilisieren?
Patrick Breyer: Wir sind an einer Stelle, wo man mit immer weniger Daten Rückschlüsse auf unser Leben, auf unsere Persönlichkeit, auf unsere Schwächen, unsere intimen Geheimnisse und sogar auf unser zukünftiges Verhalten ziehen kann. Und wenn man so viel weiß über eine Person, hat man sie letztlich in der Hand. Die Gefahr ist, dass sich das Machtverhältnis verschiebt und der Staat nicht mehr von der Bürgern kontrolliert wird, sondern umgekehrt autoritär über die Bürger bestimmt.
In China – Stichwort: Social-Credit-System – kann man sehen, wie ein übermäßiger Einsatz solcher Technologien in eine unfreiere Gesellschaft führt. Eine Gesellschaft, in der Menschen ihre Privatsphäre aufgeben, wo Konsum im Vordergrund steht, in der man permanent überwacht wird und kaum noch Freiräume hat. Dadurch geht auch Individualität verloren, alles wird gleichförmiger, Proteste verschwinden. Wenn alles unter Beobachtung und in geordneten Bahnen ablaufen soll, entsteht am Ende eine erstarrte, leblose Gesellschaft.
Ich persönlich finde: Das ist nicht die lebenswerte, vielfältige, freie Gesellschaft, in der ich leben möchte – und in der auch meine Kinder aufwachsen sollen. Deshalb müssen wir angesichts der technologischen Möglichkeiten, gerade von KI, sehr vorsichtig sein. Wir dürfen nicht alles ausschöpfen, was technisch machbar ist, sondern sollten uns immer fragen: Welche Rolle soll Technologie haben – und welche wollen wir ihr überhaupt geben?
1E9: Wie siehst du in diesem Zusammenhang die Rolle Europas? Oft wird der europäischen Politik ja vorgeworfen, neue Technologien zu schnell zu regulieren und damit Innovation und Unternehmergeist abzuwürgen.
Patrick Breyer: Die Frage ist doch, worin wir unseren Wettbewerbsvorteil sehen. Wenn es darum geht, möglichst schnell möglichst viel zu machen, werden wir China und die USA nicht einholen – da sind die vorne. Unsere Stärke liegt eher darin, Dinge besonders durchdacht zu machen, spezialisierte Produkte zu entwickeln, die mit unseren Werten im Einklang stehen und dadurch qualitativ besser sind.
Wir sehen ja auch, dass unsere Gedanken zum Datenschutz international Anklang finden – in den USA wird über ein Datenschutzgesetz diskutiert, selbst in China wird über den richtigen Umgang mit biometrischen Daten gesprochen. Das zeigt, dass es einen Markt für Produkte gibt, die sicher sind, keine Backdoors haben, nicht von außen steuerbar sind. Gerade in einer Zukunft, in der Technologie unser Leben bestimmt, werden Sicherheit und Selbstbestimmung immer wichtiger – und genau darin liegt unsere Chance.

Krischan Lehmann
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