20. Mai 2025
Um erfolgreiche Tech-Unternehmen aufzubauen, braucht Europa eine neue Strategie

Die europäische Tech-Industrie hinkt der in den USA hinterher. Um das zu ändern, muss der Kontinent laut unserem Gastautor Nicolas Colin endlich damit aufhören, das Silicon Valley kopieren zu wollen, und stattdessen eine eigene Tech-Strategie entwickeln, die Europas Besonderheiten als Stärken nutzt. Als Inspiration kann dabei auch die Formel 1 dienen.
Ein Gastbeitrag von Nicolas Colin
Das europäische Tech-Ökosystem steht an einem Wendepunkt. Nach Jahren des Hinterherlaufens hinter dem Silicon Valley und dem Zuschauen, wie China seinen eigenen Weg zur technologischen Dominanz beschritt, erkennen europäische Gründer, Investoren und Wirtschaftsführer zunehmend, dass ein grundlegender strategischer Neustart notwendig ist.
Europa hat zu lange versucht, das Erfolgsmodell des Silicon Valley zu kopieren – mit begrenztem Erfolg. Trotz einiger Lichtblicke bleibt die Lücke gewaltig: Kein europäisches Tech-Unternehmen steht gemessen an der Marktkapitalisierung unter den Top 20 der Welt. Erfolgreiche Exits sind nach wie vor seltene Ausnahmen, nicht die Regel.

Trotz dieser Herausforderungen sehe ich Grund zum Optimismus. Eine neue Generation von Akteuren sieht ein, dass Europa seinen eigenen, unverwechselbaren Ansatz entwickeln muss – einen, der unsere vermeintlichen Schwächen in strategische Vorteile verwandelt. Führende europäische Tech-Akteure beginnen zu verstehen, dass unsere fragmentierten Märkte, regulatorischen Rahmen und verstreuten Talente im richtigen strategischen Kontext als Stärken genutzt werden können.
Was Europa braucht, ist ein grundlegendes Umdenken darüber, wie wir Unternehmen aufbauen, skalieren und langfristig erfolgreich machen – und das bei gleichzeitiger Verwurzelung in Europa. Ich sehe diesen Moment als Chance, das Thema „Building in Europe“ neu zu beleuchten. In diesem Essay fasse ich meine bisherigen Gedanken und Texte dazu zusammen. Seht es als Beitrag zur laufenden Debatte – als Fundament für unsere gemeinsamen Anstrengungen, Europas Weg zur technologischen Souveränität und wirtschaftlichen Resilienz zu ebnen.
1) Wie groß ist der Rückstand Europas beim Aufbau von Technologieunternehmen?
Europa ist nicht nur im Technologiebereich im Rückstand – mit jedem Quartal fällt es weiter zurück, während es sich an beruhigende Mythen über sein Potenzial klammert. Diese Rückständigkeit ist inzwischen Teil der europäischen Tech-Identität geworden, mit einer gewissen Resignation, die sich in der Kultur des Ökosystems niederschlägt. Zwar gibt es Investoren, die stark an Europa glauben – Saul Kleins Idee eines „New Palo Alto“ ist ein gutes Beispiel – aber selbst die optimistischsten Stimmen kommen nicht umhin, die ernüchternde Realität anzuerkennen: Europa hinkt hinterher – in nahezu jeder relevanten Metrik.
Untersuchen wir, warum es Europa immer wieder nicht gelungen ist, weltweit erfolgreiche Technologieunternehmen aufzubauen:
2024 war kein einziges europäisches Tech-Unternehmen unter den 20 größten der Welt nach Marktkapitalisierung. Die US-Tech-Giganten Apple, Microsoft und Alphabet haben jeweils einen Wert von über 2 Billionen Dollar. Europas größtes Technologieunternehmen, ASML, ist 279 Milliarden Dollar wert. Das gesamte europäische Tech-Ökosystem ist weniger wert als Apple allein.
Europäische Nutzer sind weitgehend abhängig von nicht-europäischen Plattformen: Meta, Google und YouTube dominieren das digitale Leben in Europa. Viele Europäer kaufen bei Amazon ein. Spotify ist die seltene europäische Ausnahme in globalen Plattform-Rankings.
US-Tech-Unternehmen investieren mehr als doppelt so viel in Forschung und Entwicklung wie europäische Firmen. Das EU R&D Scoreboard 2024 verdeutlicht die Kluft: „Mit 181,6 Mrd. Euro im Jahr 2023 investierten die US-Softwareunternehmen etwa zehnmal mehr als ihre in der EU ansässigen Counterparts, während dieser Faktor 2013 nur 5,8 betrug."
Europa tut sich schwer mit der Skalierung von Start-ups. Im Jahr 2023 wurden hier nur sieben neue Unicorns gegründet, in den USA waren es 14. Das Paper State of European Tech 2023 von Atomico zeigt, dass europäische Start-ups in jeder Phase kleinere Finanzierungsrunden aufbringen als US-Start-ups.
Diese Zahlen zeichnen ein klares Bild des Systemversagens, das sich durch seltene, anekdotische Ausnahmen wie Spotify (Marktkapitalisierung von 116 Milliarden Euro) und Revolut (Anfang des Jahres mit 60 Milliarden Dollar bewertet und profitabel) nicht beschönigen lässt.
Tatsächlich sind beide Fälle sehr lehrreich:
Dass Revolut in Europa bleibt, liegt vor allem am lokalen Charakter von Finanzdienstleistungen. Die regulatorische Fragmentierung erschwert die Expansion in die USA, schützt Revolut aber auch vor direkter US-Konkurrenz im Heimatmarkt.
Spotify ist fast ein Zufallstreffer. Dass es ein europäisches Unternehmen geblieben ist – trotz globaler Ambitionen, auch in den USA – ist Daniel Eks Hartnäckigkeit zu verdanken. Es hätte genauso gut ein amerikanisches Unternehmen werden können.
2) Warum scheitern importierte Erfolgsmodelle?
Angesichts Europas anhaltender Unfähigkeit, Tech-Giganten hervorzubringen, liegt es nahe, sich erfolgreiche Vorbilder aus dem Ausland zu suchen. Doch wir wissen schon lange: Die Rezepte aus dem Silicon Valley funktionieren in Europa nicht gut. Wir haben andere Zutaten, unsere Küche ist anders organisiert – und die Köche sprechen verschiedene Sprachen.
Genauer gesagt haben wir in Europa fragmentierte Märkte (kulturell und sprachlich), unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen (trotz des EU-Binnenmarktes), verstreute Talentpools und wenig ausgereifte Kapitalmärkte. Das Problem ist also nicht, dass wir das Rezept falsch befolgen – wir brauchen ein komplett neues Rezept, das Europas Stärken in den Mittelpunkt stellt.
Viele von uns, die seit über einem Jahrzehnt in der europäischen Tech-Szene arbeiten, kennen dieses Dilemma gut. Als ich 2010 einstieg, versuchten alle noch, das Silicon-Valley-Playbook eins zu eins zu übernehmen – disruptiv sein, Kapital raisen, Produkte launchen à la Venture Hacks oder Getting Real. Das Ergebnis war – gelinde gesagt – ernüchternd. Trotzdem machten wir weiter. Die Vorstellung, dass es ein alternatives Playbook geben könnte, kam uns gar nicht in den Sinn.
Doch dann begannen andere Modelle zu entstehen – vor allem in China. Zwischen 2014 und 2018 änderte sich alles: Chinesische Tech-Unternehmen wurden global relevant. Es begann mit Alibabas Börsengang 2014 und kulminierte im bahnbrechenden Kommentar, den Michael Moritz von Sequoia im Januar 2018 in der Financial Times veröffentlichte. Dieses Aha-Erlebnis zwang uns Europäer zum Umdenken: Es gibt mehr als nur das Silicon-Valley-Modell. Erfolgreiche Tech-Giganten können auch unter ganz anderen Voraussetzungen und mit anderen Methoden entstehen.
Der chinesische Weg unterscheidet sich in mehreren entscheidenden Punkten:
China entwickelte sich auf einer anderen Zeitschiene: Während das Silicon Valley 80 Jahre Entwicklung mit stetiger Unterstützung aus dem Verteidigungsbudget und von akademischen Einrichtungen hinter sich hat, komprimierte China diese Entwicklung auf rund 20 Jahre.
Die Regierung spielte eine viel aktivere Rolle: Anders als in den USA wuchs Chinas Tech-Sektor durch staatliche Beteiligung und strategische Industriepolitik – sowohl auf nationaler als auch auf Provinzebene.
Die Unternehmen verfolgten auf dem Markt einen anderen Ansatz: Laut Kai-Fu Lee in seinem Buch AI Super Powers verfolgten chinesische Unternehmen eine pragmatische „Was funktioniert, das funktioniert“-Mentalität – sie starteten oft mit einfachen Kopien und entwickelten dann angepasste Geschäftsmodelle.
Sie bauten Infrastruktur selbst auf: Statt sich auf bestehende Systeme zu verlassen, entwickelten viele chinesische Unternehmen eigene Infrastrukturen – das führte zu vertikaler Integration und zum Aufstieg der „Super Apps“.
Die wichtigste Erkenntnis daraus: Das Silicon Valley ist kein universeller Bauplan. Es ist nur einer von mehreren möglichen Erfolgspfaden.
Die Tatsache, dass sowohl die USA als auch China Tech-Giganten hervorgebracht haben – mit völlig unterschiedlichen Modellen – sollte Europa ermutigen: Wenn zwei so gegensätzliche Modelle funktionieren, kann Europa auch seinen eigenen, dritten Weg entwickeln – angepasst an unsere Bedingungen und Stärken, anstatt ausländische Modelle zu importieren, die nicht zu Europa passen.
Mit anderen Worten: Wir müssen anerkennen, dass der Aufbau von Unternehmen an den lokalen Kontext angepasst werden muss – was die Ökonomin Robyn Klingler-Vidra vom King’s College London kontextuelle Rationalität nennt.
3) Was sollen wir in Europa eigentlich aufbauen?
Wenn sowohl das Silicon Valley als auch China ihren eigenen, kontextbasierten Weg zum Tech-Erfolg gefunden haben, dann bedeutet das: Europa muss ebenfalls seinen eigenen Ansatz entwickeln.
Doch bevor wir darüber sprechen, wie wir etwas bauen, müssen wir klären, was wir bauen wollen. Im Folgenden verwende ich oft die verkürzte Form „bauen“ oder „Tech-Unternehmen bauen“, aber gemeint sind eigentlich: profitabel wirtschaftende Tech-Unternehmen mit multinationaler Reichweite, die ihren Hauptsitz in Europa haben.
Jedes dieser Worte ist essenziell:
„Tech-Unternehmen“
Wir sollten Unternehmen bauen, die in das technologisch-ökonomische Paradigma des Zeitalters von Computing und Netzwerken passen. Das muss keine „Hightech“, „DeepTech“ oder bahnbrechende Innovation sein – entscheidend ist: Diese Unternehmen des 21. Jahrhunderts stehen in einer vergleichbaren Rolle wie die Automobilhersteller im 20. Jahrhundert. Damals schuf Europa (v. a. Deutschland, Frankreich, Italien, die Nordics) weltbekannte Automarken. Heute sollten wir im selben Geist Tech-Firmen aufbauen, die das wirtschaftliche Rückgrat der Zukunft bilden.
„Profitabel“
Nicht nur, weil es laut dem legendären VC Fred Adler heißt „Happiness is positive cash flow“, sondern weil nur profitabel wirtschaftende Firmen wirklich zur wirtschaftlichen Entwicklung Europas beitragen. Es reicht nicht, von Investoren Geld zu hohen Bewertungen zu beschaffen, ohne jemals Gewinne zu erzielen. Siehe dazu auch: Michael Mauboussins Einführung in ROIC (Return on Invested Capital).
„Multinationale Reichweite“
Europäische Unternehmen müssen über ihr Heimatland hinaus aktiv sein und in möglichst großem Maßstab Kunden bedienen – idealerweise weltweit. Nur so kann ein wachsender Konzern Wert auf globaler Ebene erzeugen, aber lokal realisieren (durch Arbeitsplätze, Steuern, Gewinne, Investitionen). So wie Daimler-Benz weltweit Autos verkauft und (unter den richtigen Bedingungen) Deutschland bereichert, müssen auch Tech-Unternehmen aus Europa heraus global wirtschaften.
„Mit Hauptsitz in Europa“
Das ist zentral: Der Firmensitz bestimmt in der heutigen digitalen Welt, wo der Großteil des geschaffenen Werts letztlich verbleibt. Wenn ein Tech-Unternehmen in einer anderen Region sitzt, tragen Europäer lediglich etwas zu deren Wertschöpfungskette bei, arbeiten und konsumieren aber zunehmend, um Menschen im Ausland zu bereichern. Europäische Ersparnisse bleiben dagegen in risikoarmen, wachstumsschwachen lokalen Anlagen gefangen.
Ein europäischer Hauptsitz bedeutet hingegen: Dividenden und Kapitalgewinne für hiesige Anleger, gut bezahlte Jobs, lokale Steuereinnahmen und Geld, das im lokalen Wirtschaftskreislauf bleibt. So entsteht ein positiver Rückkopplungseffekt, der Wohlstand vor Ort schafft und erhält.
Der Erfolg beim Aufbau von Technologieunternehmen sollte daran gemessen werden, inwieweit Europa in der Lage ist, neue, hochwertige Firmen hervorzubringen. Ziel ist es, Europas Kapitalrendite (ROIC) zu maximieren – also dafür zu sorgen, dass der durch neu gegründete Unternehmen geschaffene Mehrwert (wobei der Gewinn als Näherungswert dient) schneller wächst als die insgesamt investierten Mittel, einschließlich Betriebskosten und Investitionsausgaben.
Mit anderen Worten: Unsere Version der Kapitalrendite sollte bewerten, wie effizient Europa durch seine Investitionen in den Aufbau von Tech-Unternehmen Wert schafft – und wir sollten erwarten, dass diese Kapitalrendite im Laufe der Zeit steigt, während wir Europas strategische Position weiter stärken.
4) Wie kann Europa seine strategische Positionierung finden?
Sobald wir unser Ziel klar vor Augen haben – den Aufbau profitabler Tech-Unternehmen mit multinationaler Reichweite und Hauptsitz in Europa – und auch unsere zentrale Kennzahl festgelegt ist (ROIC, Return on Invested Capital), können wir Michael E. Porters strategischen Rahmen anwenden.
Wie Porter in seinem wegweisenden Artikel What Is Strategy? (Harvard Business Review, 1996) beschreibt (meinen eigenen Kommentar dazu findet man hier), umfasst eine starke strategische Positionierung die folgenden wesentlichen Elemente:
Europas strategische Positionierung muss mit Porters zentraler Einsicht beginnen: der Unverwechselbarkeit der Wertschöpfungskette. Erfolg entsteht durch „das Bewahren dessen, was ein Unternehmen einzigartig macht“ und „das Ausführen anderer Aktivitäten als die Rivalen oder das Ausführen ähnlicher Aktivitäten auf andere Weise“.
Für Europa bedeutet das, dass wir eine eigene, unverwechselbare Wertschöpfungskette entwickeln müssen, die unsere vermeintlichen Schwächen – fragmentierte Märkte, regulatorische Komplexität, verstreute Talente, Risikoscheu, unterentwickelte Kapitalmärkte – in einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil beim Aufbau von Tech-Unternehmen und der Maximierung von ROIC verwandelt.
Damit diese Positionierung funktioniert, müssen schmerzhafte Kompromisse eingegangen werden. Nicht alles, was im Silicon Valley oder in China erfolgreich ist, wird auch hier funktionieren – und das ist völlig in Ordnung. Wir müssen ehrlich erkennen, was im europäischen Kontext nicht funktioniert, und aufhören, schlecht passende Modelle zu erzwingen. Manche Chancen müssen wir gezielt auslassen, um in anderen Bereichen wirklich herausragend zu sein.
Beispiel: Wir betreiben in Europa kein Blitzscaling – also sollten wir auch keine Mega-Finanzierungsrunden anstreben, die allein dem Zweck dienen, exponentielles Wachstum bei defizitären Unternehmen zu finanzieren.
Die Stärke einer guten Positionierung ergibt sich aus dem Zusammenspiel ihrer Komponenten. Jedes Element – von Regulierung über Finanzierung, Talentförderung und Marktzugang – muss die anderen unterstützen. Es geht hier nicht um isolierte Einzelmaßnahmen, sondern darum, ein fein abgestimmtes System zu schaffen, in dem jede Komponente die Wirksamkeit des Gesamtsystems erhöht.
Schließlich erfordert Europas Positionierung Kontinuität in der Ausrichtung. Strategie ist nichts, was man ändert, sobald ein neuer Trend auftaucht oder kurzfristige Ergebnisse ausbleiben. Europa muss sich auf einen Kurs festlegen und ihm Zeit geben, Wirkung zu entfalten – auch wenn der Druck groß ist, schnellen Erfolgen hinterherzujagen oder das zu kopieren, was anderswo funktioniert.
Ein weiterer entscheidender Punkt: Gute strategische Positionierung ist nicht dasselbe wie das, was Porter „operative Effektivität“ nennt. (Meine Erläuterung des Unterschieds hier.) Allzu oft geraten europäische Tech-Akteure in die Falle der operativen Effektivität – sie versuchen, die Praktiken des Silicon Valley durch Einzelmaßnahmen wie bessere Gründerkultur, angepasste Regulierungen oder Reformen bei Mitarbeiterbeteiligungen zu kopieren.
Aber wie Porter sagt: „Wettbewerb, der allein auf operativer Effektivität basiert, ist für beide Seiten zerstörerisch und führt zu Abnutzungskämpfen, die nur durch eine Begrenzung des Wettbewerbs beendet werden können.“ Wir können unsere Beteiligungs-Optionen-Systeme noch so verbessern – die Mitarbeiterbeteiligung wird in den USA immer attraktiver bleiben als in Europa.
Tatsächlich entsteht operative Exzellenz oft erst aus guter strategischer Positionierung. Ich bin überzeugt: Sobald Europa eine geeignete strategische Position für den Aufbau von Tech-Unternehmen gefunden hat, werden sich viele der heutigen Herausforderungen – kulturelle Unterschiede, rechtliche Hürden, fehlende Infrastruktur – durch Marktdynamiken und Umverteilung von Ressourcen von selbst lösen.
Wir haben dieses Muster bereits im chinesischen Tech-Ökosystem gesehen: Sobald die strategische Positionierung passte, floss Kapital in großem Maßstab, das dann zuvor unlösbar erscheinende Probleme bei Zahlungen, Logistik oder digitaler Infrastruktur schnell beseitigte.
Die zentrale Erkenntnis lautet: Ressourcenknappheit und kulturelle Barrieren sind keine festen Hindernisse, sondern Symptome suboptimaler strategischer Positionierung. Wenn durch die richtige Positionierung höhere Renditen entstehen (ROIC!), lenken Marktkräfte Ressourcen ganz von selbst in Richtung der entscheidenden Herausforderungen.
Fazit: Europas strategische Aufgabe ist klar. Wir müssen eine Positionierung entwickeln, die unsere besonderen Eigenschaften nutzt – und nicht versuchen, fremde Modelle zu imitieren. Nur durch bewusste Trade-offs und den Aufbau eines kohärenten, sich selbst verstärkenden Systems können wir ein Tech-Ökosystem schaffen, das nach europäischen Spielregeln funktioniert und floriert.
5) Sollten wir uns auf die Frühphase von Start-ups konzentrieren?
Wenn es um Europas Herausforderung beim Aufbau großer Tech-Unternehmen geht, konzentrieren sich viele auf die Frühphase.
Die Logik dahinter: Wenn Europa keine großen Tech-Unternehmen hervorbringt, muss etwas von Anfang an schieflaufen – und genau dort sollte man ansetzen. Hinzu kommt der wichtige Gedanke, dass Gründer selbst am besten wissen, was zu tun ist, dass sie „Startup-Communities“ aufbauen sollten (wie von Brad Feld und Ian Hathaway dokumentiert – siehe hier), und dass erst, wenn sie einen gangbaren Weg gefunden haben, ein „unternehmerisches Ökosystem“ – bestehend aus Investoren und Unterstützern – hinzutritt.
Kurz: Alles beginnt mit den Gründern, und der beste strategische Hebel ist es, ihre ersten Schritte zu optimieren.
Das Problem an dieser Fixierung auf die Frühphase ist jedoch: Nach 15 Jahren mangelt es Europa immer noch an einem systematischen Track Record beim Aufbau profitabler, multinationaler Tech-Unternehmen (mit wenigen Ausnahmen wie Spotify, Revolut, ASML und Adyen). Das bedeutet: Es gibt gar kein erprobtes Modell, das man systematisch „reverse engineeren“ könnte.
Anstatt ein bewährtes Playbook zu verfeinern, schicken wir einfach immer mehr Gründer an den Omaha Beach und hoffen, dass ein paar von ihnen das feindliche Feuer durchbrechen und den Weg für andere freimachen. Aber: Nach 15 Jahren gescheiterter Sturmangriffe, wäre es da nicht an der Zeit, dass sich das Oberkommando eine neue Strategie überlegt?
Der in Abschnitt 2 beschriebene konzeptionelle Widerspruch wird in der Frühphase besonders deutlich: In den USA gibt es ein über Generationen perfektioniertes Playbook, das immer wieder zu profitablen Tech-Giganten geführt hat – Intel, Apple, Microsoft, Google, Amazon, Meta und viele mehr. Deshalb funktionieren Programme wie das Thiel Fellowship – bei dem junge Menschen Geld bekommen, um Unternehmen zu gründen statt zur Uni zu gehen – in den USA so gut: Sie befeuern eine gut geölte Maschine, die zuverlässig aus ehrgeizigen Gründern globale Tech-Champions macht.
Europa hingegen hat diese Maschine nicht. Und ohne ein erprobtes eigenes Playbook werden Frühphasen-Initiativen zu vorschnellen Optimierungen eines nicht funktionierenden Systems.
Wenn ich heute systematische Bemühungen sehe, die Frühphase in Europa zu verbessern – 15 Jahre nach Beginn unserer Versuche –, erinnert mich das an Entwicklungsländer, die stark in höhere Bildung investieren, aber nicht genug qualifizierte Arbeitsplätze schaffen – was zu Brain Drain, Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit führt.
Wir sollten erwarten, dass sich dieselbe Dynamik auf Europas Tech-Ökosystem überträgt: Mehr Startups scheitern. Die wenigen Erfolgreichen skalieren, indem sie in die USA expandieren (und sich oft auch dorthin verlagern). Potenzielle Gründer wählen lieber sichere Corporate-Jobs, statt ihre Karriere zu riskieren, indem sie den Strand stürmen. Europa versinkt weiter in langsamem Wachstum, niedriger Produktivität und einer zunehmenden Lücke bei der technologischen Führerschaft.
Aber Moment mal, werden Sie sich vielleicht fragen, war ich nicht Mitbegründer eines Startup-Accelerators (The Family), der seit 2013 genau das zum Ziel hatte: die Frühphase von Start-ups systematisch zu verbessern?
Diese Kritik mag überraschend erscheinen, wenn sie von jemandem mit meinem Hintergrund kommt, aber gerade meine Erfahrung mit The Family hat mir gezeigt, warum dieser Ansatz nur begrenzt funktioniert. Ich zitiere bzw. paraphrasiere hier aus meinem Essay von 2020 über Y Combinator:
„Y Combinator hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, das Silicon-Valley-Ökosystem auf das nächste Level zu heben – denn Frühphasen-Investitionen zu einer eigenen Industrie zu machen, ist der letzte Feinschliff für ein funktionierendes Ökosystem. Und genau diesen Feinschliff hat Y Combinator dem Silicon Valley verliehen.“
Frühphasen- bzw. Early-Stage-Investoren – insbesondere selbsternannte „Accelerators“ – führen Außenstehende oft in die Irre. Man denkt, sie wären der erste Baustein, weil sie in der Frühphase aktiv werden. Doch in Wahrheit ist das Gegenteil richtig: Programme wie Y Combinator sind der abschließende Feinschliff in einem bereits großen und gesunden Ökosystem (in diesem Fall: Silicon Valley), in dem man versucht, die ersten Schritte einer neuen Gründergeneration zu optimieren, die einem bekannten Pfad folgt.
Mit anderen Worten: „Accelerators“ funktionieren nur dann gut, wenn sie etwas weitergeben können. Bei The Family hatten wir unsere eigene Doktrin, ja. Aber mehr auch nicht. Sie war unsere, nicht allgemein akzeptiert. Wir glaubten an sie, arbeiteten täglich daran, sie zu verbessern – aber sie war kein allgemein anerkanntes System. Ein gesundes Ökosystem wie das Silicon Valley hat etwas zu vermitteln. Paris hingegen hat nichts Stabiles, Eindeutiges oder Erprobtes weiterzugeben, weil es an vorherigen Generationen von erfolgreichen Tech-Unternehmen fehlt.
Daher ist es unmöglich, im Nachhinein zu entschlüsseln, was den Erfolg in späteren Phasen wahrscheinlicher macht, wenn man keine breite Basis erfolgreicher Vorgängerunternehmen hat. Y Combinator konnte Startup-Erfolg in Silicon Valley „reverse engineeren“. Wir in Europa können nur raten, was funktionieren könnte – und hoffen, dass es klappt.
Kurz gesagt: All diese „Accelerators“, die es heute in jeder Stadt gibt und die meist nach dem Vorbild Y Combinator modelliert wurden (oft sogar mit Missverständnissen), sind, als würde man das Innere eines Hauses streichen, bevor man das Dach gedeckt hat. Es ist Zeit, zu lernen, wie man es richtig macht – und zu erkennen, dass Y Combinator nicht existieren würde ohne das funktionierende Ökosystem des Silicon Valley. Und dass es nutzlos oder sogar kontraproduktiv ist, es ohne ein solches Ökosystem nachzuahmen.
Um klar zu sein: Es ist natürlich weiterhin die Aufgabe jeder Frühphasen-Investorin und jedes Frühphasen-Investors in Europa, herausragende Gründer zu unterstützen – also Ressourcen dynamisch bereitzustellen, um ihnen zu helfen, von ihrem lokalen (und meist unreifen) Ökosystem unabhängig zu werden.
Doch ich bin überzeugt: Jede kollektive Anstrengung, die sich zu stark auf die Frühphase von Start-ups fokussiert, verkennt zwei grundlegende Einsichten:
Wir haben nicht genug Erfolgsgeschichten, um systematisch herauszufinden, was in der Frühphase in Europa funktioniert – und was nicht.
Wir sind im Übergang ins Zeitalter von Computing und Netzwerken schon viel zu weit, um weiter alles auf Frühphasen-Gründer zu setzen.
Wie ich schon vor über einem Jahr im Essay The Door Is Closing on Startups schrieb: Wir wissen inzwischen genug über das derzeitige techno-ökonomische Paradigma, um einen proaktiveren Ansatz zu verfolgen – einen, der eine „Follower“-Mentalität einnimmt, um gegenüber fortgeschritteneren Volkswirtschaften wie den USA und China aufzuholen.
6) Was passiert, wenn sich der Nebel rund um Computing und Netzwerke lichtet?
Vor fünfzehn Jahren war das Start-up-Umfeld noch von großer Unsicherheit geprägt – ein dichter Nebel, der sowohl Chancen als auch Gefahren verdeckte.
Dieser Nebel erfüllte eine wichtige Funktion: Er hielt etablierte Unternehmen davon ab, sich in unbekanntes Terrain zu begeben, da sie zu viel zu verlieren hatten. Start-ups hingegen, die nichts zu verlieren hatten, konnten sich in diese Unsicherheit vorwagen. Viele scheiterten, doch die erfolgreichen fanden auf der anderen Seite wertvolle Marktsegmente und bauten dort Verteidigungsmechanismen auf, bevor die etablierten Akteure folgen konnten.
Heute jedoch hat sich dieser Nebel weitgehend gelichtet – insbesondere im Bereich Computing und Netzwerke. Der Weg zur Digitalisierung von Geschäftsmodellen ist mittlerweile gut kartiert, mit klaren Vorgehensweisen und bekannten Stolpersteinen. Selbst im Bereich der Künstlichen Intelligenz, trotz ihres revolutionären Potenzials, hat sich nur wenig fundamentale Unsicherheit eingestellt, was ihre kommerzielle Entwicklung betrifft.
Als ChatGPT auf den Markt kam, zögerten die großen Technologiekonzerne nicht – sie setzten sofort erhebliche Ressourcen ein, um eigene Konkurrenzprodukte zu entwickeln. Bereits zwei Jahre später existieren ausgereifte und günstige Open-Source-Alternativen wie DeepSeek. Diese rasche Reaktion legt nahe, dass wir uns heute in einem Umfeld bewegen, das nicht mehr durch fundamentale Ungewissheit, sondern durch bekannte Herausforderungen geprägt ist, die mit Produktionskapital und nicht mehr mit Risikokapital adressiert werden.
Diese neue Klarheit bringt sowohl Herausforderungen als auch Chancen für Europa mit sich:
Der Vorteil des Ersten schwindet. In einem berechenbareren Umfeld haben Early Movers nicht mehr denselben entscheidenden Vorsprung wie früher. Erfolg hängt heute stärker von exzellenter Umsetzung und Skalierung ab als von Pioniergeist.
Die Ressourcenallokation verbessert sich. Bessere Übersicht und besserer Durchblick erlauben es europäischen Unternehmen, strategisch fundierte Entscheidungen darüber zu treffen, wo investiert und konkurriert werden soll – ein Vorteil für einen kontinentweit kapitalarmen Standort und ein wirkungsvoller Hebel zur Maximierung des ROIC.
Nachzügler können aufholen. In einem besser vorhersehbaren Umfeld können Spätzünder aus den Fehlern anderer lernen, ihre Strategien anpassen und wettbewerbsfähiger agieren.
Abgrenzungsfähigkeit wird entscheidend. Da Ungewissheit nicht länger als natürliche Barriere fungiert, müssen europäische Unternehmen andere Wettbewerbsvorteile entwickeln – etwa durch Regulierung, Marktstellung oder technologische Exzellenz.
Historisch betrachtet zeigt sich, dass ganze Länder oder Regionen, die zu den „Verfolgern“ gehörten, häufig in der Lage waren, die Vorreiter wirtschaftlich zu überholen. Großbritannien war Vorreiter der Industriellen Revolution, doch Deutschland, Frankreich und die USA entwickelten letztlich stärkere Industrieökonomien. Die USA waren führend bei der Massenproduktion von Automobilen, aber Deutschland, Japan und Südkorea brachten später einige der erfolgreichsten Autobauer der Welt hervor. In allen Fällen studierten die Verfolger die Wege der Vorreiter, vermieden deren Fehler und passten ihre Herangehensweise dem eigenen Kontext an.
Heute befinden wir uns im Zeitalter von Computing und Netzwerken, mit den USA als Vorreiter und China als erstem großen Verfolger. Daraus ergibt sich für Europa eine entscheidende Chance – allerdings erfordert sie die Anerkennung einer unbequemen Wahrheit: Europa ist heute, was Technologie betrifft, de facto eine sich erst entwickelnde Region.
Dies ist kein polemisches Statement, sondern ein strategischer Perspektivwechsel, der neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. So wie sich das Amerika des 19. Jahrhunderts als Entwicklungsregion verstand und seine jungen Industrien entsprechend schützte, braucht Europa eine ähnliche Verschiebung im Selbstverständnis, um die Vorteile der Verfolgerposition zu nutzen – in einem Umfeld, in dem der Nebel sich gelichtet hat.
Die Anerkennung des eigenen Entwicklungsstatus würde industrielle Maßnahmen rechtfertigen, die für „fortgeschrittene“ Volkswirtschaften möglicherweise unangemessen erscheinen – etwa den Schutz junger Industrien, langfristige staatliche Investitionen in technologische Kompetenzen und die Priorisierung technologischer Souveränität gegenüber kurzfristiger Markteffizienz.
Die Vorteile dieser Verfolgerrolle sind erheblich:
Infrastruktur ist heute günstiger zu bauen als früher, da die Kosten über die Jahre gefallen sind.
Die Talentpools sind tiefer geworden, da technische Bildung heute weiter verbreitet ist.
Marktchancen sind klarer, weil Pioniere Geschäftsmodelle bereits validiert haben.
Die spezifischen Eigenschaften Europas – regulatorischer Rahmen, industrielle Basis, Marktstruktur – sind keine Hindernisse, sondern potenzielle Vorteile beim Aufbau eines eigenständigen technologischen Erfolgsmodells. Die Frage ist nicht, ob Europa mithalten kann – die Geschichte zeigt, dass Verfolger die Führenden einholen können –, sondern ob Europa bereit ist, seine Position als Entwicklungsregion zu akzeptieren und einen langfristig angelegten Weg einzuschlagen, wie es Südkorea mit Samsung und Hyundai, Japan mit seinem postindustriellen Aufstieg in Robotik und Manufacturing oder China ab 1978 unter Deng Xiaoping getan haben.
Dabei ist zu beachten, dass „Folgen“ nicht mit „Kopieren“ gleichzusetzen ist: Japan folgte den USA in der Automobilherstellung, aber Toyota verfolgte einen völlig anderen Ansatz als die Big Three aus Detroit.
Für Europa geht es also nicht um das Eingeständnis einer Niederlage – sondern um die Wahl der richtigen Strategie, die zur tatsächlichen Ausgangslage passt. Wenn eine Region sich noch im Aufbau befindet, kann sie mit guten Gründen ihre jungen Industrien schützen, in grundlegende Fähigkeiten investieren und mutige, proaktive Maßnahmen ergreifen, die für eine „entwickelte“ Wirtschaft überzogen erscheinen würden. Für einen Verfolger ist das „Was“ klar – die Herausforderung liegt im „Wie“.
Europa ist ohne Zweifel fähig, im globalen Technologiewettbewerb zu bestehen. Doch der Erfolg hängt davon ab, ob wir unsere tatsächliche Ausgangslage anerkennen und daraus eine wirkungsvolle Strategie ableiten. Anstatt Pionier zu sein, muss Europa die Vorteile der Verfolgerrolle nutzen – denn die meisten Pionierchancen sind heute ohnehin bereits vergeben.
7) Wie trägt Europas regionale Dynamik zur technologischen Zukunft bei?
Nachdem wir definiert haben, welche Art von Tech-Unternehmen Europa bauen muss, und festgestellt haben, dass wir eine einzigartige strategische Positionierung brauchen, stellt sich nun die grundlegende Frage: Wer soll diesen wirtschaftlichen Wandel orchestrieren?
Diese Frage geht über die Identifikation einzelner Personen oder Institutionen hinaus. Sie offenbart einen tiefer liegenden Konflikt zwischen zentralisierten und dezentralisierten Ansätzen wirtschaftlicher Entwicklung.
Historisch gesehen verließen sich Volkswirtschaften, die eine rasche Entwicklung erfolgreich orchestrierten – etwa Singapur unter Lee Kuan Yew oder Südkorea unter Park Chung Hee – auf starke zentrale Führung und dirigistische Industriepolitik. Europa hingegen fehlt sowohl der institutionelle Rahmen als auch die kollektive Denkweise, um einem solchen Modell zu folgen.
Tatsächlich wird Europa oft fälschlicherweise als einheitlicher Block betrachtet – nicht zuletzt wegen der Existenz der Europäischen Union. Doch die EU ist kein integriertes Wirtschaftssystem mit einheitlicher Entscheidungsstruktur. Würde Europa seine Position als technologische Entwicklungsregion annehmen (wie in Abschnitt 6 argumentiert), könnte sich eine starke zentrale Instanz auf natürliche Weise herausbilden, um diese Entwicklung zu steuern.
Derzeit jedoch sehen sich Europas größte Volkswirtschaften weiterhin als entwickelte Länder – sie sind dem Erhalt offener Gesellschaften, freier Märkte, freier Mobilität und vor allem einer relativ schwachen zentralen Steuerung verpflichtet. Gleichzeitig lehnen die Regionen, die den Begriff „Dynamic Europe“ prägen – ein Ausdruck, den die Risikokapitalgesellschaft Bek Ventures verwendet – eine Zentralisierung aktiv ab, da sie wissen, dass jede übergeordnete Struktur vermutlich von den träge agierenden westeuropäischen Ländern dominiert würde.
Vor diesem Hintergrund muss Europas technologische Erneuerung dezentral organisiert sein – nicht von Brüssel oder den nationalen Regierungen gesteuert, sondern getragen von Gründern, Investoren und Marktkräften. Fortschritt wird nicht durch einen großen kontinentalen Masterplan erreicht, sondern durch kollektives Handeln innerhalb eines diversen und verteilten europäischen Gründungsökosystems.
Ein dezentraler Ansatz ist umso notwendiger, als regionale Dynamik Europas verborgenes Kapital ist. Auch wenn Produktivitätsdaten oft ein düsteres Bild der kontinentalen Gesamtleistung zeichnen, wachsen Länder wie Polen oder Bulgarien weiter, während größere Volkswirtschaften wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland stagnieren. Diese Regionen, die unter „Dynamic Europe“ fallen, könnten die technologische Zukunft Europas anführen – gerade, weil sie nicht an der Selbstwahrnehmung als „entwickelte Volkswirtschaften“ festhalten.
Was „Dynamic Europe“ auszeichnet, ist nicht bloß Geografie, sondern eine bestimmte Haltung und Herangehensweise. Laut Bek Ventures, umfasst diese Denkweise Gründer aus Mittel- und Osteuropa, die „fleißig, technisch hochqualifiziert und ehrgeizig sind, mit einem globalen Maßstab als nicht verhandelbarem Ziel“. Diese Gründer bauen Unternehmen mit weniger vorgefassten Annahmen, geringerer Bindung an alte Systeme und einem natürlichen Fokus auf den Weltmarkt von Tag eins an auf – nicht zuletzt, weil ihre Heimatmärkte oft zu klein sind, um Unternehmen in Unicorn-Größe hervorzubringen.
Diese Mentalität verschafft ihnen einen strukturellen Vorteil. Während Gründer aus Westeuropa oft versuchen, zuerst den Heimatmarkt zu optimieren – und dabei nicht selten in ihm gefangen bleiben –, beginnen Gründer aus Dynamic Europe zwangsläufig mit globalen Ambitionen. Unternehmen wie UiPath (Rumänien), Pipedrive (Estland), Wise (Estland) und Infobip (Kroatien) zeigen exemplarisch, wie aus Regionen, die vom Mainstream-Venture-Kapital lange übersehen wurden, global konkurrenzfähige Produkte entstehen können – mit Bewertungen, die viele westliche Startups übertreffen.
Genauso wie China in den 1990er Jahren häufig falsch eingeschätzt wurde, wenn es als homogener Block betrachtet wurde, ist auch Europa als Ganzes eine irreführende Betrachtungseinheit. Investoren, die damals nur auf China als Land schauten, übersahen das explosive Wachstum in Städten wie Shanghai, Shenzhen oder Peking – und später auch in sogenannten „Tier-2“-Städten wie Chongqing, Chengdu oder Hangzhou (Heimat von Alibaba).
Wer Europa nur durch die Brille seiner stagnierenden Volkswirtschaften betrachtet, verkennt die Hotspots für Innovation und Wachstum.
8) Wie kann Koordination ohne zentrale Steuerung funktionieren?
Die Herausforderung besteht also darin, Ergebnisse wie unter Lee Kuan Yew zu erzielen – ohne Lee Kuan Yew selbst und ohne die fähige zentrale Bürokratie, über die Singapur verfügte. Ein dezentraler Ansatz erfordert andere Mechanismen, um Anstrengungen zu koordinieren und strategische Kohärenz zu fördern.
Zu solchen Mechanismen gehören überzeugende Narrative, die zum Handeln inspirieren und ein gemeinsames Verständnis schaffen. Vor einigen Jahren habe ich über den Mangel an europäischen Narrativen geschrieben und an verschiedenen Initiativen mitgewirkt, um diese Lücke zu schließen. Seitdem hat sich einiges bewegt – etwa das Wachstum von Sifted als paneuropäischem Medium oder die beeindruckende Arbeit von Pia Michel auf ihrer „Grand Tour of Europe“.
Diese Narrative sind nicht bloß inspirierende Anekdoten – sie dienen als starke Koordinationsinstrumente auf mehrere konkrete Arten:
Narrative prägen Investment-Thesen. Als Atomico ab 2015 mit der Veröffentlichung der State of European Tech-Reports begann, dokumentierten diese nicht nur das Ökosystem, sondern gestalteten es aktiv. Durch die Hervorhebung von Erfolgsmustern in bestimmten Regionen und Sektoren lenkten sie Kapital und Aufmerksamkeit auf vielversprechende Chancen, die sonst übersehen worden wären.
Narrative stiften gemeinsame Identität und Zielsetzung. Die französische Initiative La French Tech, gestartet 2013, etablierte eine erkennbare Marke und einen gemeinsamen Bezugspunkt, der die zuvor fragmentierte Gründerszenen einte. Das war nicht bloß symbolisch – es führte zu messbaren Effekten bei Talentbindung, internationaler Anwerbung und letztlich auch zu politischen Reformen, die ohne diese kollektive Identität wohl nicht erfolgt wären.
Narrative signalisieren Chancen gegenüber Talenten. Wenn Daniel Ek Spotifys Mission beschreibt als „einer Million kreativer Künstler die Möglichkeit zu geben, von ihrer Kunst zu leben“, dann ist das mehr als Unternehmensrhetorik – es ist ein Signal, das bestimmte Talente nach Stockholm zieht, was wiederum Cluster-Effekte erzeugt, die dem gesamten Ökosystem zugutekommen. Ein ähnlicher Effekt entstand, als DeepMind London als Zentrum für ethische KI positionierte – was eine gezielte Zuwanderung von Forschern und Start-ups mit Fokus auf verantwortungsvolle Technologien auslöste.
Narrative sind jedoch nicht das einzige Koordinationsinstrument in dezentralen Systemen.
Praktische Theorien helfen ökonomischen Akteuren, fundiertere Entscheidungen zu treffen. Manche glauben, beim Aufbau von Tech-Unternehmen sei kein Raum für abstraktes Denken – ein Irrtum. Andy Grove, legendärer CEO von Intel, war ein leidenschaftlicher Leser von Clay Christensens The Innovator’s Dilemma. Er ließ sämtliche Intel-Manager darin schulen, da er in Christensens Theorien ein strategisches Führungsinstrument sah: „Eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsamer Bezugsrahmen, um Konsens über kontraintuitive Handlungsoptionen herzustellen.“
Spekulative Blasen – trotz all ihrer Exzesse – erfüllen ebenfalls eine koordinierende Funktion, indem sie Kapital in aufkommende Bereiche lenken. Wie Carlota Perez, mein Mentor Bill Janeway, und jüngst Byrne Hobart von The Diff argumentiert haben: Blasen erzeugen Dringlichkeit. Anleger, die glauben, dass sich die Zukunft radikal von der Gegenwart unterscheiden wird, fühlen sich zum Handeln gezwungen – entweder weil sie glauben, dass sie nicht eintreten wird, wenn sie sie nicht selbst bauen, oder weil sie befürchten, dass jemand anderes sie falsch bauen wird.
Insgesamt folgt wirtschaftliche Entwicklung oft einem vorhersehbaren Muster, das dezentralen Fortschritt ermöglicht. Für Europa bedeutet das:
Ein Perspektivwechsel: Unternehmer, Investoren und Institutionen müssen beginnen, so zu handeln, als würden sie in einer entwicklungsfähigen Region mit hohem Wachstumspotenzial operieren. Narrative und Theorien fungieren dabei als Koordinationswerkzeuge.
Strategische Positionierung durch dezentralisiertes Handeln: Wenn Kapital und Talente in Richtung der hochwertigsten Chancen fließen, entsteht Spezialisierung. Im Rückblick mag dies wie eine kohärente Strategie wirken, ist in Wahrheit aber das Ergebnis zahlreicher unabhängiger Entscheidungen.
Iteration statt zentraler Planung: Während das System sich weiterentwickelt, werden Ineffizienzen beseitigt, Koordination verbessert und leistungsfähige Cluster gestärkt – das führt zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf wirtschaftlicher Aufwertung.
Kurzum: Ohne einen europäischen Lee Kuan Yew oder Park Chung Hee, der Ressourcen zentral lenken könnte, bleibt uns nur die dezentrale Koordination. Das entscheidende Erfolgskriterium bleibt ROIC – unsere bereits definierte Messgröße dafür, wie effektiv Europa den Aufbau von Tech-Unternehmen in Wertschöpfung, Kaufkraft und wirtschaftliche Sicherheit übersetzt.
Die Frage ist nicht, wer die Führung übernehmen soll – sondern wie wir die Voraussetzungen für eine dezentrale Renaissance schaffen, in der niemand führen muss.
9) Können wir uns von der Rothschild-Dynastie inspirieren lassen?
Die Herausforderung, ein gesamteuropäisches unternehmerisches Ökosystem ohne zentrale Autorität aufzubauen, ist nicht ohne historische Parallele.
Im 19. Jahrhundert, obwohl supranationale Regierungsstrukturen fehlten, existierte in Europa ein funktionierendes Wirtschaftssystem, das globales Wachstum und Innovation ermöglichte. Im Zentrum stand das, was Karl Polanyi als „Haute Finance“ bezeichnete – ein Netzwerk von Bankiersfamilien, das eine internationale Finanzinfrastruktur aufbaute, die nationale Interessen überschritt.
Die Rothschild-Bankendynastie verkörpert dieses Modell. Mayer Amschel Rothschild errichtete ein Finanzimperium, indem er seine fünf Söhne strategisch in den wichtigsten Finanzzentren Europas platzierte: Frankfurt, Wien, London, Neapel und Paris. Dieses verteilte Familiennetzwerk schuf etwas Außergewöhnliches: ein gesamteuropäisches Finanzsystem, das über nationale Interessen hinaus operierte.
Wie Polanyi darüber feststellte:
„Die Rothschilds unterstanden keiner Regierung; als Familie verkörperten sie das abstrakte Prinzip des Internationalismus… Ihr Kredit war zur einzigen supranationalen Verbindung zwischen politischer Regierung und industrieller Entwicklung geworden.“
Auffällig ist, wie dieses System ohne zentrale Autorität funktionierte. Jeder Rothschild-Bruder hatte lokale Autonomie, war aber Teil eines gemeinsamen Unternehmens mit einheitlichen Protokollen, Kommunikationssystemen und gemeinsamen Werten. Wie Niall Ferguson in seiner monumentalen Rothschild-Geschichte The House of Rothschild dokumentiert, verfügte die Familie über hochentwickelte Kuriere und Verschlüsselungssysteme, um Geld und Informationen schneller als die Konkurrenz oder Regierungen zu übermitteln – was ihnen ermöglichte, solide Investitionsentscheidungen über den gesamten Kontinent hinweg zu treffen und die wirtschaftliche Entwicklung Europas über Generationen hinweg mitzugestalten.
Das heutige europäische Tech-Ökosystem steht vor ähnlichen Fragmentierungsproblemen: Französische Tech-Initiativen interagieren kaum mit der deutschen Szene, spanische Unternehmen agieren unabhängig von niederländischen. Diese Trennung wird durch Medien verstärkt, die lokale Helden feiern, und durch Investoren (wie auch Regierungen), die nationale Champions priorisieren.
Das Rothschild-Modell zeigt jedoch eine alternative Möglichkeit auf: dezentrale, aber koordinierte Netzwerke, die lokales Wissen nutzen, dabei aber stets einen multinationalen Blick bewahren. Einige erfolgreiche europäische Gründer folgen diesem Prinzip bereits. Daniel Dines, Gründer von UiPath, arbeitete bei Microsoft in den USA, bevor er nach Rumänien zurückkehrte, um dort sein Unternehmen aufzubauen – ein Paradebeispiel für das, was Anna Lee Saxenian als „Brain Circulation“ bezeichnet: Unternehmer sammeln im Ausland Erfahrungen, kehren jedoch zurück, um in ihrer Heimat Unternehmen zu gründen.
Der zentrale Punkt ist: Erfolgreiche europäische Tech-Unternehmen haben immer auch eine lokale Dimension – man kann Spotify nicht verstehen, ohne Stockholm zu verstehen, genauso wenig wie man im 20. Jahrhundert Michelin verstehen konnte, ohne Clermont-Ferrand zu kennen. Doch gleichzeitig müssen diese Unternehmen über ihre Lokalität hinauswachsen, um auf kontinentaler und globaler Ebene zu operieren.
Die Lehre daraus ist nicht, dass wir neue Bankendynastien brauchen – die Welt von heute ist weit entfernt vom Europa des 19. Jahrhunderts. Was wir brauchen, sind institutionelle Innovationen, die eine Koordination auf gesamteuropäischer Ebene ermöglichen, ohne zentrale Autorität vorauszusetzen. In einem Gründer- und Investor-geführten Tech-Ökosystem entstehen diese Koordinationsmechanismen vermutlich eher im privaten Sektor als in Brüssel, Paris oder Berlin – und leisten damit einen Beitrag zu Europas strategischer Positionierung für den Aufbau von Technologieunternehmen.
10) Wie können Europas besondere Merkmale zu einem Vorteil werden?
Die Fragmentierung des europäischen Marktes wird seit langem als zentrales Hindernis für den Aufbau skalierbarer Tech-Unternehmen genannt. Anders als der relativ homogene US-Markt ist Europa ein Flickenteppich aus verschiedenen Sprachen, Regulierungen und Geschäftskulturen, der eine Expansion über Landesgrenzen hinweg erschwert. Diese Komplexität erzeugt Reibungsverluste, die es den meisten Startups unmöglich machen, die nötige Größe zu erreichen, um global wettbewerbsfähig zu sein.
Doch was wäre, wenn genau diese Komplexität Europas Vorteil sein könnte?
Fragmentierung durch Buy-to-Build überwinden
Ein vielversprechender Ansatz ist die sogenannte „Buy-to-Build“-Strategie – ein klassisches Modell aus der Private-Equity-Welt. Anstatt durch organisches Wachstum über Grenzen hinweg zu expandieren (was extrem schwierig ist, wie sich sowohl im Portfolio von The Family als auch bei bekannten Beispielen wie Doctolib und Malt zeigt), könnten europäische Tech-Unternehmen mithilfe von Private-Equity-finanzierten Übernahmen ähnliche Lösungen aus unterschiedlichen Märkten konsolidieren – unter einem gemeinsamen Dach.
Wie der Gründer Lucas Bédout auf LinkedIn treffend bemerkte:
„Der europäische Markt ist fragmentiert, mit unzähligen länderspezifischen Lösungen, die ähnliche Funktionen bieten, aber nie konsolidiert werden, weil es sich niemand leisten kann, die anderen zu kaufen. Schauen Sie sich an, wie viele Unternehmen aktuell in verschiedenen Ländern dieselben Probleme lösen – in Bereichen wie Ausgabenmanagement, Beschaffung, Abrechnung, Finanzwesen oder KMU-Zahlungen.“
Es gibt aussagekräftige Präzedenzfälle, die zeigen, dass dieser Ansatz funktionieren kann:
Trainline, unterstützt von KKR, übernahm Wettbewerber in ganz Europa, darunter Captain Train in Paris – und schuf so einen früh erfolgreichen Konsolidierungs-Case.
Klarna verfolgte eine ähnliche Strategie im Fintech-Bereich durch Akquisitionen wie Sofort (Deutschland) und BillPay, um seine Position im fragmentierten europäischen Zahlungsmarkt auszubauen.
Adevinta, die norwegische Classifieds-Gruppe, erweiterte ihre Aktivitäten durch den Kauf von eBay Classifieds Group für 9,2 Milliarden US-Dollar. Damit vereinte sie Plattformen wie Mobile.de in Deutschland und Leboncoin in Frankreich.
TeamViewer baute sein Geschäft für Remote-Work-Lösungen aus, indem es gezielt Unternehmen wie Ubimax und das österreichische Xaleon/Chatvisor übernahm.
Dennoch ist, soweit ersichtlich, bisher kein eigener Bereich im europäischen Private-Equity-Markt entstanden, der sich gezielt auf länderübergreifende Tech-Konsolidierung fokussiert.
Doch genau dies könnte die Zukunft Europas sein: Buy-to-Build als Strategie, die nicht auf mehr Start-ups, sondern auf weniger, dafür aber stärkere, kapitalisierte und grenzüberschreitend tätige Unternehmen setzt – Unternehmen, die auf kontinentaler Ebene mit ihren US-Pendants konkurrieren können.
Solche Konsolidierungen...
reduzieren Ineffizienzen, die aus dem Wettbewerb zahlreicher nationaler Einzelakteure entstehen,
und schaffen größere, investitionsfähige Einheiten, die in Produktentwicklung, Personal und Technologie signifikant investieren können.
Europas Komplexität als Wettbewerbsvorteil nutzen
Tom Lambert von LocalGlobe bietet eine weitere Perspektive: Europas Komplexität ist nicht nur ein Hindernis – sie kann auch eine Quelle für Wettbewerbsvorteile sein:
„Es ist nicht einfach, europäische Märkte zu bedienen. Es ist ein Flickenteppich aus Märkten, Vorschriften, Währungen, Zahlungsmethoden und Kulturen. Diese Komplexität erzeugt Reibungen, die viele als Herausforderung betrachten. Aber genau diese Komplexität ist es, die Unternehmen wie Revolut, Adyen und Wise hervorgebracht hat.“
Unternehmen, die es schaffen, diese Komplexität zu meistern, entwickeln Fähigkeiten, die für externe Wettbewerber nur schwer replizierbar sind: etwa Expertise in der Navigation durch regulatorische Anforderungen, in der Lokalisierung von Produkten und im Management kultureller Vielfalt. Diese Fähigkeiten werden mit der Zeit zu Wettbewerbsvorteilen – sowohl gegenüber US-Giganten als auch gegenüber neuen Marktteilnehmern.
Künstliche Intelligenz als Integrationsmotor
KI – insbesondere Large Language Models (LLMs) – könnte sich als entscheidender Gleichmacher erweisen, der europäischen Tech-Unternehmen hilft, Fragmentierung zu überwinden. Mit zunehmendem Fortschritt in der KI verblassen viele der Barrieren, die bisher grenzüberschreitendes Wachstum erschwert haben:
Fortschrittliche Übersetzungstechnologien reduzieren Kosten und Aufwand bei der Anpassung von Produkten an unterschiedliche Märkte.
Neue KI-basierte Compliance-Lösungen erleichtern die Navigation komplexer Regulierungen, indem sie Anforderungen direkt in Softwarelösungen einbetten.
Datenextraktionstechnologien ermöglichen die Integration mit veralteten Systemen, ohne bestehende Infrastrukturen komplett ersetzen zu müssen.
Diese Entwicklungen eröffnen die Möglichkeit für europäische Unternehmen, das klassische SaaS-Modell zu überspringen und KI-native Lösungen zu bauen, die nicht gegen, sondern mit der europäischen Komplexität arbeiten.
Wertschöpfungsketten integrieren
Die Zukunft europäischer Tech-Industrie könnte auch in einer tieferen Integration entlang der Wertschöpfungsketten liegen. So wie das japanische Keiretsu-System Toyota bei der Entwicklung seiner Lean-Produktion half, könnte das Potenzial von KI nur dann vollständig ausgeschöpft werden, wenn Unternehmen gemeinsam statt isoliert agieren – wie ich in meinem Essay Who Will Be the Japan of the AI Era? ausgeführt habe.
Statt wie im traditionellen VC-Modell auf unabhängige Start-ups zu setzen, könnten viele europäische Start-ups in engen Partnerschaften mit etablierten Unternehmen gedeihen. Diese Kooperationen würden ihnen nicht nur Kapital verschaffen, sondern auch Zugang zu Daten, Domänenwissen und Märkten – während sie gleichzeitig den großen Unternehmen moderne KI-Kompetenzen liefern.
All diese Ansätze beruhen auf einer einfachen Wahrheit: Europas Weg zum technologischen Erfolg muss nicht dem des Silicon Valley folgen. Indem Europa seine einzigartigen Herausforderungen nicht verdrängt, sondern in Stärken verwandelt, kann es einen eigenen Weg zur globalen Wettbewerbsfähigkeit gehen.
Der positive Kreislauf ist klar: Mehr erfolgreiche, kontinentale Unternehmen → führen zu besserer strategischer Positionierung → was wiederum mehr Chancen für weitere Erfolge schafft. Die Frage ist, ob das europäische Tech-Ökosystem bereit ist, diese alternativen Wege zu beschreiten.
11) Wie können wir Europas eigenen Weg in die technologische Zukunft gestalten?
Wir haben uns ausführlich mit den Herausforderungen Europas im Tech-Bereich beschäftigt – mit fragmentierten Märkten, Kapitalengpässen, verteilten Talenten und dem Schatten, den der Erfolg des Silicon Valley wirft. Jetzt ist es an der Zeit, einen pragmatischen Weg nach vorn zu formulieren, der Europas besondere Voraussetzungen nutzt, anstatt fremde Modelle zu imitieren.
Dieser Weg bedeutet nicht, in der Frühphase von Start-ups anzusetzen. Europa braucht keine weiteren Acceleratoren oder Seed-Fonds – das sind abschließende Komponenten für Ökosysteme, die bereits funktionieren, nicht die Grundlage für solche, die sich noch im Aufbau befinden. Stattdessen müssen wir die Zahl erfolgreicher Tech-Unternehmen mit multinationaler Reichweite erhöhen, um anhand dieser Fälle eine klar europäische Strategie ableiten zu können.
Die Herausforderung besteht nicht darin, etwas Kaputtes zu reparieren, sondern darin, etwas Funktionierendes zu schaffen, das mit unserem Kontext harmoniert. Was dazu nötig ist, bezeichnen Ingenieure als „Impedanzanpassung“: Es geht darum, dass alle Elemente eines Systems aufeinander abgestimmt sind, sodass Verluste minimiert und Werte optimal übertragen werden. In unserem Fall bedeutet das, alle Teile des Tech-Ökosystems so auszurichten, dass ineffiziente Reibung minimiert und Wertschöpfung maximiert wird.
Wie könnte diese Impedanzanpassung in Europa konkret aussehen?
Marktintegration
Statt gegen Marktfragmentierung anzukämpfen, sollten wir Buy-to-Build-Strategien nutzen, um ähnliche Lösungen länderübergreifend zu konsolidieren. Das Ziel: kontinentale Unternehmen, die im globalen Wettbewerb bestehen können.
Kapitaleinsatz
Investitionen sollten gezielt in skalierbare Unternehmen fließen, die ihre Fähigkeit zur Navigation durch Europas Komplexität bereits bewiesen haben – statt Kapital auf tausende Frühphasenunternehmen zu verteilen, die im jeweiligen Heimatmarkt steckenbleiben und keine kritische Masse erreichen.
Talententwicklung
Wir sollten „Brain Circulation“ im Sinne von AnnaLee Saxenian fördern – also Europäer, die im Ausland Erfahrungen sammeln und dann heimkehren, um Unternehmen aufzubauen. Das erinnert an die chinesische „Go Out“-Politik der 1990er-Jahre unter Jiang Zemin. Dafür ist ein proaktiver Umgang mit europäischen Diasporas nötig – nicht nur innerhalb Europas, sondern auch in den USA, Asien und anderswo.
Regulatorischer Rahmen
Wir sollten Europas Regulierungsumfeld von einer Belastung in einen strategischen Vorteil verwandeln, indem wir Technologien fördern, die Compliance erleichtern. Diese können als übertragbare Stärke dienen, wenn europäische Unternehmen in andere stark regulierte Märkte expandieren.
Industrielle Basis
Europa sollte seine starke industrielle Tradition nutzen – denn im Zeitalter von KI und vernetzten Systemen verschmelzen digitale Technologien und physische Industrie zunehmend. An den Schnittstellen entstehen enorme Chancen.
Das übergeordnete Ziel sollte sein, ein unternehmerisches Ökosystem zu schaffen, das der Formel 1 ähnelt: ein Hightech-Umfeld extremer Spezialisierung, in dem die meisten Beteiligten kein perfektes Englisch sprechen, aber dennoch reibungslos zusammenarbeiten. Die F1 ist global präsent, bleibt jedoch in Europa verwurzelt – mit einem Zentrum in Motorsport Valley (UK), aber auch mit Ferrari in Italien, Sauber in der Schweiz und Alpine in Frankreich (wenn auch wohl nicht mehr lange).
Diese Analogie liefert mehrere hilfreiche Parallelen zur Tech-Branche in Europa:
Die F1 zeigt, dass technologische Exzellenz in Europa gedeihen kann, trotz der globalen Dominanz der USA in anderen Bereichen. Während die USA NASCAR und IndyCar haben, bleibt die Formel 1 in ihrer DNA eindeutig europäisch – und dennoch weltweit erfolgreich. Genau diesen Status sollte Europas Tech-Branche anstreben.
Das Talentmodell der F1 ist vorbildlich: Ingenieure, Mechaniker, Strategen und Fahrer aus ganz Europa arbeiten in multinationalen Teams zusammen, kommunizieren in pragmatischem Englisch und überwinden so Sprachbarrieren, die europäische Tech-Initiativen oft lähmen.
Das Modell der „Kooperenz“ (Kombination aus Kooperation und Konkurrenz): Teams konkurrieren an Renntagen hart gegeneinander, arbeiten aber bei Regulierungen, Sicherheitsstandards und Vermarktung zusammen. Ähnlich braucht Europas Tech-Szene sowohl gesunden Wettbewerb als auch strategische Koordination – bei Themen wie Regulierung, Talententwicklung und internationaler Positionierung.
Die F1 zeigt, wie ein hochinnovatives, technisches Ökosystem durch ein balanciertes Governance-Modell funktionieren kann: mit einem kommerziellen Rechteinhaber (Formula One Group, heute Teil von Liberty Media) und einem Regulierungsorgan (FIA, mit Sitz in Frankreich). Diese duale Struktur bietet klare Regeln und kommerzielle Rahmenbedingungen – erlaubt den Teams aber gleichzeitig Eigenständigkeit bei Innovation und Umsetzung.
Dieses Governance-Modell – zentrale Koordination bei gleichzeitiger dezentraler Initiative – könnte auch für Europas Tech-Welt ein Vorbild sein: gemeinsame Standards und strategische Ausrichtung auf kontinentaler Ebene, bei gleichzeitig national und regional organisierter Umsetzung.
Diese Analogie ist nicht zufällig gewählt. Zwar ist Fußball ebenso europäisch und international wie die F1 – doch Formel 1 steht exemplarisch für ein hoch technologisiertes, global erfolgreiches Feld mit europäischen Wurzeln.
Im Gegensatz zur Formel 1 glaube ich jedoch nicht, dass der in diesem Text beschriebene Weg für Europas Tech-Branche eine starke zentrale Steuerung braucht – die es ohnehin nie geben wird. Was es stattdessen braucht:
Gründer, die von Anfang an grenzüberschreitend denken,
Investoren, die bereit sind, späte Konsolidierungsstrategien mitzutragen,
und ein gemeinsames Mindset, das Europas Komplexität als Vorteil begreift – und nicht als Belastung.
Der Weg wird nicht leicht und nicht kurz sein. Es dauerte Jahrzehnte, bis Deutschland im Zuge der Zweiten Industriellen Revolution Großbritannien in der Industrieproduktion überflügelte. Auch die technologische Vorherrschaft der USA entstand über Generationen hinweg.
Aber mit einer klaren strategischen Positionierung und konsequenter Umsetzung kann Europa seinen eigenen, unverwechselbaren Weg zur globalen Tech-Wettbewerbsfähigkeit beschreiten – nicht durch Nachahmung des Silicon Valley, sondern durch das Schreiben eines eigenen Kapitels in der Geschichte des technologischen Fortschritts.
Was Europa jetzt braucht, ist kein weiterer Accelerator oder Frühphasenfonds – sondern eine mutige, langfristige Vision, die durch konkrete, kontextangepasste Schritte umgesetzt wird. Das ist unsere Herausforderung – und unsere Chance.
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel Europa Must Build: A Strategic Reset im Newsletter Drift Signal von Nicolas Colin.


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