18. Dezember 2024
Thomas Sattelberger: „Man muss jetzt neu und radikal denken, sonst fährt das Land gegen die Wand“

Thomas Sattelberger saß lange im Deutschen Bundestag und im Vorstand großer deutscher Konzerne. In seinem neuen Buch rechnet er mit der Innovationspolitik in Deutschland ab und plädiert für ein neues, unternehmerisches Denken. Im 1E9-Interview sprechen wir über das Scheitern der Digitalisierung, Systemfehler in der Politik, Wege durch die Krise – und eine neue Gesellschaft im Zeitalter der KI.
Ein Interview von Krischan Lehmann
Eigentlich hat Dr. h. c. Thomas Sattelberger alles erreicht: Er hat in der Politik und in der Wirtschaft Karriere gemacht, einen langen Marsch durch Vorstandsetagen von DAX-Konzernen bis hinein in den Bundestag hinter sich. Nun könnte er in seiner Villa am Starnberger See nur noch den eigenen Hobbys frönen. Etwa seinem Kanal bei Tiktok , den er äußerst schätzt. Aber irgendwie ist der frühere Gründer der Revolutionären Jugend Deutschlands, Ortsgruppe Stuttgart, immer auch ein Rebell geblieben.
Nach einem beinahe geräuschlosen Abschied aus der Politik im Sommer 2022 liefert er nun mit seinem neuen Buch Radikal neu: Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft einen verbalen Paukenschlag. Und einen sorgsam kuratierten Strauß von wirklich guten Ideen aus seinen Kernfeldern Innovation, Transformation, Forschung und Bildung. Er habe nach seinem Abgang als Staatssekretär im Bildungsministerium eine „Schamfrist“ eingehalten, wie er zugibt, aber jetzt sei es doch an der Zeit, einmal ordentlich reinen Tisch zu machen.
1E9: Du schaust dir Deutschland seit Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an – politisch, wirtschaftlich, in Bildungsfragen, in der Forschung und in Sachen Innovation. Im Moment wird dem Land eigentlich in all diesen Dimensionen eine Schwäche attestiert. Was ist deine Diagnose, warum schwächeln wir so?
Thomas Sattelberger: Wir schwächeln nicht, wir sind krank. Und ich kann das für mich bis ins Platzen der Dotcom-Blase zurückverfolgen, also etwa bis zur Jahrtausendwende. Damals haben einige wenige US-amerikanische Unternehmen wie beispielsweise Amazon und Google die Grundlage dafür gelegt, dass die USA nicht nur ein digitales Spielbein, sondern ein digitales Standbein bekommen haben. Bei uns sind währenddessen zehn Jahre Schläfrigkeit über das Land gegangen. Jetzt kann man sagen, dass wir in der Zeit die Hartz4-Reform und schwierige Jahre für die Wirtschaft hatten, aber zumindest seit 2010 haben wir die digitale Transformation systematisch verschlafen – und zwar nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in unseren klassischen Branchen Maschinen-, Anlagen- und Autobau.
Die Ökonomen sagen, dass die digitale Transformation den USA ungefähr 1,5 Prozentpunkte Produktivitätszuwachs gebracht hat, während unser Produktivitätswachstum von durchschnittlich zwei Prozent schleichend auf 0,5 Prozent zurückging. Inzwischen schrumpfen wir in der Leistung pro Kopf. Und das hat zutiefst mit den Produktivitätsfortschritten durch die digitale Ökonomie zu tun.
Warum fremdelt das weltweit hochgeschätzte deutsche Ingenieurswesen mit dem Digitalen so?
Thomas Sattelberger: Wir fremdeln nicht, wir haben es versaubeutelt!
Aber wieso?
Thomas Sattelberger: Wir sind nach wie vor ein Maschinenland. Was anfassbar ist, das lieben wir. Mit der Datenökonomie tun wir uns extrem schwer. Ich kann jetzt natürlich auch mit Clayton Christensen sprechen: ‚Erfolg ist die Ursache für Misserfolg.‘ Wer ein solcher Exportweltmeister war, der sieht halt nicht, dass Tesla heranwächst. Der ist auf beiden Augen blind. Der sieht auch nicht, wie die Südkoreaner cyberphysisch aufrüsten und dass der chinesische und südkoreanische Maschinen- und Anlagenbau eigentlich kein Nachzügler mehr ist, sondern ein erfolgreicher Mitbewerber. Deutschland hat sich in sein Standbein ‚Maschine‘ verliebt, so wie es in den 50er und 60er Jahren mal in Kohle und Stahl verliebt war.
Wir haben nicht mehr gesehen, dass andere Nationen beginnen, Spielbeine aufzubauen, beispielsweise im Bereich der Biotechnologie, New Space oder der Künstlichen Intelligenz. Das Biotech-Cluster rund um Boston ist nicht in den letzten drei Jahren entstanden, SpaceX auch nicht. Und ich habe gerade in einer McKinsey-Untersuchung gelesen, dass deutsche Unternehmen, insbesondere der Mittelstand, mit KI immer noch fremdeln. Und dass die, die nicht fremdeln, KI für Prozesseffizienz nutzen, aber nicht für neue Geschäftsmodelle.
Wir lieben unsere alten Konzerne, auch wenn sie margen- und innovationsarm dahinvegetieren.
Uns fehlt heute der Geschäftssinn?
Thomas Sattelberger: Wir denken nicht in Geschäftsmodellen. Aber dass wir keine Spielbeine aufgebaut haben, das ist sehr stark Staatsversagen. Es fehlen forschungsbasierte Ausgründungen, aus Universitäten und Forschungsinstituten wie Fraunhofer und Co heraus. Und warum? Wir lieben unsere alten Konzerne, auch wenn sie margen- und innovationsarm dahinvegetieren. Wir können uns eigentlich eine neue Ökonomie nicht vorstellen. Das hat aber auch zutiefst mit der Frage zu tun, wie die Beschäftigungsstrukturen in diesem Lande sind. Freelancer sind ja verteufelt. Und gerade digitale Freelancer sind extrem gründungsaffin. Aber über denen hängt das Damoklesschwert der Scheinselbständigkeit. Wir lassen neue Arbeit nicht zu. Wir reden über ‚New Work‘, aber innerhalb abhängiger Beschäftigung, und nicht über ‚New Working‘, im Sinne von wirklich neuer Arbeit. Die lassen wir nicht zu. Wir sind ein erfolgsverliebtes altes Land in spätrömischer Dekadenz.

Krischan Lehmann
Co-Founder 1E9
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