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11. Mai 2019

Kann ein Virus die Menschheit vom Hass befreien?


1E9: Dein neuestes Projekt klingt irgendwie gruselig. Du hast einen Retrovirus erschaffen und forderst Menschen dazu auf, sich zu infizieren. Einige werden sofort an tödliche Krankheiten denken. Warum hattest du das Gefühl, es brauche einen so schockierenden Einsatz, um deine Message zu vermitteln?


Von Wolfgang Kerler


Lovesick heißt ihr neuestes Werk. Liebeskrank. Eine durchsichtige Flüssigkeit, die sie in gekrümmten Glasampullen präsentiert. Lovesick ist ein Retrovirus, den Heather Dewey-Hagborg zusammen mit Forschern einer Biotechnologie-Firma entwickelt hat. Der Virus infiziert Menschen mit einem Gen, das die Produktion des Hormons Oxytocin ankurbelt. Manchmal wird es auch das Kuschelhormon genannt, es wird mit Liebe, Vertrauen und Nähe in Verbindung gebracht. Der Virus, der tatsächlich existiert und aus einem echten Labor stammt, soll also Liebe verbreiten.


Die Verbindung aus neuester Technologie und Kunst zeichnet die Arbeiten von Heather Dewey-Hagborg aus, die schon beim World Economic Forum oder im MoMA PS1 in New York gezeigt wurden. Auch bei der 1E9-Konferenz am 11. Juli wird Heather dabei sein. Im Interview erklärt sie, warum sie den Virus erschaffen hat und damit rechnet, dass wir es irgendwann mit aktivistischen Biohackern zu tun bekommen.


Heather Dewey-Hagborg erschafft Kunst mit Technologie, um die gesellschaftliche Debatte darüber zu befeuer. Bild: Ana Brigada for the New York Times

1E9: Dein neuestes Projekt klingt irgendwie gruselig. Du hast einen Retrovirus erschaffen und forderst Menschen dazu auf, sich zu infizieren. Einige werden sofort an tödliche Krankheiten denken. Warum hattest du das Gefühl, es brauche einen so schockierenden Einsatz, um deine Message zu vermitteln?


Heather Dewey-Hagborg: Bei meiner Arbeit ist es oft so, dass ich Dinge zeige, die viele zunächst schockieren – obwohl sie schon fast alltäglich sind. Für die Erschaffung des Lovesick Virus habe ich eine Technik verwendet, die für Medikamente zwar noch kaum eingesetzt wird, an der aber längst geforscht wird. Die biomedizinische Industrie verwendet Viren, um bestimmte Gene anzugreifen oder zu ergänzen.


Diese Technologie wird keine 20 Jahre mehr auf sich warten lassen. Sie steht quasi schon vor der Haustür. Mit meiner Arbeit möchte ich darauf aufmerksam machen. Denn wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, wie sie eingesetzt werden soll. Das ist aber nur der eine Grund, warum Lovesick Virus entstanden ist. Der andere ist das politische Klima, in dem wir uns befinden. Ich wollte dem ganzen Pessimismus und der scheinbaren Perspektivlosigkeit etwas entgegensetzen.


Du hast geschrieben, der Lovesick Virus soll ein imaginärer Ausweg aus unserer Post-Trump- und Post-Brexit-Krise sein. Wie empfindest du denn diese Krise gerade? Statistisch gesehen geht es vielen Leuten, gerade in Ländern wie Deutschland, momentan ja ziemlich gut.


Heather: Die Krise drückt sich durch Entfremdung und Hass aus. Ein Teil der Bevölkerung – zwar eine Minderheit, aber eine sehr große Minderheit – empfindet echten Hass auf Menschen, die anders sind. Was wäre, wenn wir darauf einfach mit mehr Liebe reagieren könnten? Diese würde aber nicht durch Worte verbreitet werden, sondern mithilfe eines biomedizinischen Werkzeugs.


Ich habe mir bei dem Projekt eine Aktivistin vorgestellt: eine Biohackerin, die ihr Leben betrachtet und die gesellschaftliche Situation, in der sie sich wiederfindet. Sie ist desillusioniert von digitaler Technologie, sie empfindet eine große Distanz zu anderen Menschen, sie ist erschüttert von der hasserfüllten Politik. Sie entschließt sich deshalb dazu, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen…


Glaubst du, so eine Biohackerin könnte es in Zukunft wirklich geben?


Heather: Ich halte es jedenfalls nicht für unrealistisch, aber das ist natürlich ein sehr persönlicher Ansatz. Davon abgesehen bin ich davon überzeugt, dass die Entwicklungen der Medizin und der Biotechnologie einen deutlich größeren Einfluss auf die Gesellschaft nehmen werden als bisher.


Psychiater setzen schon lange Medikamente ein, die das Verhalten von einzelnen Menschen verändern. Könnte es nicht sein, dass wir irgendwann der gesamten menschlichen Spezies einen Mangel an Zuneigung, Sympathie und Liebe diagnostizieren? Dann könnten doch jemand auf die Idee kommen, ein Heilmittel dafür herzustellen, sobald die Technologie dafür existiert, oder?


Auf jeden Fall werden wir immer neue Versuche erleben, wie wir selbst biologisch optimiert werden könnten. Deswegen müssen wir darüber diskutieren, welche ethischen Vorstellungen wir haben, wenn es um die Genschere CRISPR oder vergleichbare Technologien geht. Die sind nämlich keine Zukunftsvisionen, sondern die Gegenwart.


Der Lovesick-Virus wird in Glas-Ampullen aufbewahrt, die die Form des Hormons Oxytocin in seinen verschiedenen Energiezuständen haben. Man kann sie aufbrechen und den Virus trinken. Bild: Heather Dewey-Hagborg/Fridman Gallery

Wieso hast du dich eigentlich dazu entschieden, Technologie und Kunst zu verschmelzen, um deinen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte zu leisten? Du hättest doch auch einfach Bilder malen, Bücher schreiben oder Dokumentarfilme drehen können.


Heather: Das war eigentlich keine Entscheidung. Das war das Leben. Ich bin einfach dem Pfad gefolgt, der mir richtig erschien. Kunst ist meine Forschungsmethode geworden. Für mich fühlt es sich ehrlicher an, selbst mit den Materialien und Technologien zu arbeiten, mit denen ich mich auseinandersetze, als nur von außen darauf zu schauen und Kritik zu äußern. Ich will die Dinge wirklich begreifen.


Und du möchtest Debatten auslösen, richtig? Sprechen wir deshalb über ein Projekt, das schon ein wenig her ist. Vor sechs Jahren warntest du mit Stranger Visions vor forensischer DNA Phänotypisierung , also der Möglichkeit, aus der DNA eines Menschen sein Aussehen zu rekonstruieren. Damals hast du Haare, alte Kaugummis und Zigarettenkippen gesammelt, daraus DNA extrahiert und 3D-Modelle von den möglichen Gesichtern der dazu gehörenden Menschen erschaffen. Hast du das Gefühl, deine Warnung von damals ist angekommen?


Heather: Die damals beginnende, globale Debatte über Überwachung drehte sich fast nur um den digitalen Raum und seine Technologien. Wie verletzlich unser Körper für Überwachung ist, wurde vernachlässigt. Durch das Projekt konnte ich die Aufmerksamkeit auch darauf lenken. Menschen erkannten dadurch, dass forensische DNA-Phänotypisierung bald bei polizeilichen Ermittlungen eingesetzt werden könnte.


Ich habe nicht die Hybris zu glauben, meine Arbeit könnte die Welt verändern. Aber ich hoffe, dass ich die gesellschaftliche Wahrnehmung ein bisschen beeinflussen kann. Vielleicht schaffe ich es, dass manche Menschen etwas genauer nachdenken oder erkennen, welche Komplikationen manche Entwicklungen verursachen könnten, oder zumindest auf Veränderungen vorbereitet werden.


Dass Kultur durchaus wegweisend sein kann, zeigt der Science-Fiction-Film Gattaca von 1997…


…in dem Menschen auf Basis ihrer Gene einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen…


Heather: …und der seiner Zeit wirklich voraus war! Wahrscheinlich kann man keine direkte Linie ziehen. Aber einige Jahre später wurde in den Vereinigten Staaten ein Gesetz namens Genetic Information Nondiscrimination Act erlassen, das verbietet, dass Menschen aufgrund ihrer Gene von Arbeitgebern oder Versicherungen diskriminiert werden.

Um aber ganz ehrlich zu sein: In den meisten Fällen gibt es aus meiner Sicht keine eindeutig richtigen und eindeutig falschen Antworten. Die meisten Technologien sind sehr komplex. Da können wir nicht einfach sagen: Lassen wir die Finger davon! Wir müssen nuanciert definieren, was damit getan werden darf und was nicht.


Mit ihrem Werk Stranger Visions machte Heather auf die Möglichkeiten der forensischen DNA Phänotypisierung aufmerksam. Bild: Heather Dewey-Hagborg/Fridman Gallery

Bist du selbst optimistisch? Gehst du davon aus, dass wir am Ende die meisten Technologien gut und sinnvoll einsetzen werden?


Heather: Sagen wir mal… ich versuche jeden Tag meinen Optimismus zu finden. Das ist nicht einfach und wir müssen wirklich für eine gute Zukunft kämpfen. Wir müssen die Vision einer wünschenswerten Zukunft entwickeln. Leider haben wir dafür keine Vorbilder oder Theorien, die uns leiten könnten. Deswegen brauchen wir dringend neue Ideen.


Was mich wirklich optimistisch stimmt, ist die zunehmende Vielfalt. Stimmen von Menschen, die lange marginalisiert waren, werden endlich gehört: von Frauen, nicht weißen oder queeren Menschen oder Menschen mit Behinderung. Durch diese Vielfalt steigt die Chance, dass es uns gelingt, eine konkrete Vision für eine Zukunft zu entwickeln, in der wir leben wollen.


Wolfgang Kerler

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