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17. Februar 2025

Die unheimliche Macht der Mathematik: „Modelle sind Werkzeuge, aber keine Wahrheiten.“


Von Klimasimulationen bis Künstliche Intelligenz: Mathematik hat in unserer Welt eine zentrale Rolle eingenommen. Sie verspricht Vorhersagen, Klarheit und Lösungen für komplexe Probleme. Doch was passiert, wenn mathematische Modelle nicht halten, was sie vorgeben? Der Physiker und Philosoph Marco Wehr warnt im 1E9-Interview vor einem blinden Vertrauen in Mathematik und erklärt, warum ihre Macht manchmal zur Gefahr wird.


Ein Interview von Wolfgang Kerler

 

1E9: Marco, was meinst du, wenn du sagst, die Mathematik habe die Funktion eines Mythos in unserer Gesellschaft übernommen?


Marco Wehr: „Wir neigen dazu, mathematischen Simulationen oder Prognosen zu vertrauen – unabhängig von ihrer Qualität. Es gibt einen Begriff, den ich gerne benutze: rhetorische Mathematik. Das sind mathematische Modelle, die Exaktheit vorgaukeln, aber in Wahrheit erkenntnistheoretisch oft wenig wert sind.


Nehmen wir etwa Modelle, die die Wahrscheinlichkeit eines Krieges berechnen. Sie arbeiten mit Parametern, um die „Aggressivität“ von Staaten abzubilden. Aber wie quantifiziert man das? Welchen Wert geben wir dem Iran, den USA oder Deutschland? Das bleibt oft eine subjektive Einschätzung. Je nach Modell können solche Modelle komplett unterschiedliche Ergebnisse liefern, weil sie sehr empfindlich auf Veränderungen der Eingabedaten reagieren. Man spricht hier von ,garbage in, garbage out‘ – wenn die Eingabedaten unsinnig sind, kommt auch Unsinn heraus.“

 

Gibt es konkrete Beispiele dafür aus unserem Alltag?


Marco Wehr: „Ein prominentes Beispiel sind Klimamodelle, die natürlich kein Unsinn sind. Sie sind wichtig und ich habe vor diesen Modellen einen unglaublichen Respekt. Aber sie sind auch extrem komplex. Schon bei der Wahl der Messgrößen können Fehler passieren. Welche Faktoren müssen wir berücksichtigen – von der Wolkenbildung bis zur Vegetation? Wie stehen diese Faktoren in Beziehung? Und wie empfindlich reagiert das Modell auf kleine Störungen?

Es ist entscheidend, sich über die Vorläufigkeit der Ergebnisse im Klaren zu sein. Modelle sind nützlich, aber sie sind keine unverrückbaren Wahrheiten.“



 
Unser Interviewpartner Marco Wehr. Bild: Ulrich Metz
Unser Interviewpartner Marco Wehr. Bild: Ulrich Metz

Marco Wehr ist Physiker, promovierter Philosoph und Gründer des Philosophischen Labors in Tübingen. Als preisgekrönter Autor, unter anderem für die FAZ oder in seinen Büchern, erkundet er Fragen der Vorhersehbarkeit, der Komplexität und des Zusammenspiels von Gehirn und Computer. Sein jüngstes Sachbuch, Gelassenheit trotz Komplexität, erklärt, wie wir in einer chaotischen Welt die Ruhe bewahren können. Mehr dazu in dieser Buchvorstellung auf 1E9.

 

 

Gehen wir einen Schritt zurück: Was genau ist eigentlich ein mathematisches Modell?


Marco Wehr: „Das erkläre ich gern mit Galileis Experimenten zum freien Fall. Er wollte wissen, wie sich fallende Körper bewegen Um das zu untersuchen, baute er eine schiefe Ebene und ließ Kugeln rollen. Er konnte zunächst nur vermuten, welche Größen relevant sind – Zeit, Strecke, Winkel – und er musste die richtigen Messinstrumente finden.


Das Resultat seiner Experimente war ein mathematisches Modell – eine Gleichung, die vorhersagte, wie schnell die Kugel unten ankommt. Das konnte er nachmessen. Letzteres ist entscheidend: Ein Modell muss validierbar sein. Es ist nur dann gut, wenn es Vorhersagen macht, die in der Wirklichkeit bestätigt werden können. Diese Validierung bleibt bei vielen modernen Modellen jedoch oft unvollständig.“

 

War mit Galilei auch unsere Liebe zu mathematischen Modellen geboren, die uns die Welt erklären sollen?


Marco Wehr: „Ja, der Startschuss fiel mit Galilei. Im 19. Jahrhundert gipfelte das in einer regelrechten Euphorie. Man glaubte, mit Mathematik alles berechnen zu können. Ein Paradebeispiel ist die Entdeckung des Planeten Neptun durch Le Verrier. Er berechnete dessen Position allein am Schreibtisch – und der Planet wurde genau dort gefunden.


Naturwissenschaftliche Allmachtsfantasien!

Solche Erfolge führten aber auch zu einer Überzeugung, die Mathematik könne alle Phänomene der Welt erklären. Naturwissenschaftliche Allmachtsfantasien! Diese wurden erst durch Wissenschaftler wie Henri Poincaré infrage gestellt, der zeigte, dass manche Systeme chaotisch und unvorhersehbar sind. Seine Untersuchungen zum Drei-Körper-Problem offenbarten, dass es Situationen gibt, in denen kleinste Messungenauigkeiten exponentiell anwachsen, wodurch langfristige Vorhersagen unmöglich werden.“

 


 
Schematische Darstellung des Drei-Körper-Problems, das das allumfassende Vertrauen in die Vorhersagekraft von Mathematik in Frage stellte.
Schematische Darstellung des Drei-Körper-Problems, das das allumfassende Vertrauen in die Vorhersagekraft von Mathematik in Frage stellte.

Das Drei-Körper-Problem und seine Bedeutung

Das Drei-Körper-Problem beschreibt die Bewegung dreier Himmelskörper unter ihrem gegenseitigen gravitativen Einfluss. Henri Poincaré bewies, dass dieses Problem in vielen Fällen chaotisch ist, wodurch langfristige Vorhersagen unmöglich werden. Die Thematik inspirierte die erfolgreiche Romantrilogie Die drei Sonnen von Liu Cixin, die das Konzept von Chaos und Stabilität auf eine galaktische Ebene hebt und als Netflix-Serie adaptiert wurde.

 

 

Welches Risiko birgt denn ein zu großes Vertrauen in mathematische Modelle?


Marco Wehr: „Gefährlich wird es, wenn wir zu viel Vertrauen in Modelle setzen, die in Wirklichkeit unsicher oder fehlerhaft sind. Das prominenteste Beispiel ist die Finanzkrise 2008.


Damals verwendeten viele Banken für ihren automatisierten Wertpapierhandel Modelle, die auf der Annahme basierten, dass Marktbewegungen statistisch unabhängig sind. Das funktioniert so lange, wie die Ereignisse voneinander getrennt betrachtet werden können – etwa wie beim Würfeln, wo ein Wurf den nächsten nicht beeinflusst. Aber die Börse funktioniert anders. Menschen reagieren oft emotional, sei es durch Panik oder Gier. Wenn also ein Verkaufspanik ausgelöst wird, beginnen andere Marktteilnehmer ebenfalls zu verkaufen, und es entsteht eine Kettenreaktion.


Diese Lawineneffekte wurden von den verwendeten Modellen nicht richtig abgebildet. Außerdem kam hinzu, dass komplexe Finanzprodukte wie Derivate auf diesen fehlerhaften Annahmen aufgebaut waren. Das Problem dabei: Die Mathematik, die eigentlich nur ein Beschreibungsinstrument sein sollte, begann aktiv die Realität zu beeinflussen. Es kam zu Fehleinschätzungen der Risiken, die letztlich das Finanzsystem ins Wanken brachten. Die Krise hat eindrücklich gezeigt, dass der Glaube an die Vorhersagekraft solcher Modelle in die Irre führen kann.“

 

Siehst du aktuell auch in anderen Bereichen Gefahren?


Marco Wehr: „Ja, besonders bei Künstlicher Intelligenz. Nehmen wir große Sprachmodelle oder Algorithmen, die in sozialen Medien unser Verhalten analysieren. Diese Systeme sind oft Blackboxes – wir wissen nicht genau, wie sie arbeiten, aber sie haben realen Einfluss auf unseren Alltag. Sie steuern, zum Beispiel, unsere Kaufentscheidungen und geben uns Antworten auf unsere Fragen. Wenn solche Systeme fehlerhaft sind, können sie immense Auswirkungen auf die Gesellschaft haben


Besonders kritisch wird das, wenn die Mathematik selbst Teil der Wirklichkeit wird.

Besonders kritisch wird das, wenn die Mathematik selbst Teil der Wirklichkeit wird, die sie eigentlich nur beschreiben sollte. In der Finanzwelt ist das, wie gesagt, bereits der Fall: Algorithmen handeln autonom und beeinflussen den Markt direkt. Jetzt sollen KI-Agenten auf Basis großer Sprachmodelle in vielen anderen Bereichen zum Einsatz kommen.“

 

Gibt es Bereiche, in denen Modelle unzweifelhaft nützlich sind?


Marco Wehr: „Absolut, wenn die Wirklichkeit vorhersagbar ist. Ein Beispiel: Die Flugbahn eines Satelliten zum Mars kann mit beeindruckender Präzision berechnet werden. Diese Modelle funktionieren fantastisch, weil sie auf stabilen physikalischen Gesetzen basieren. Doch nicht alle Bereiche sind so vorhersehbar.  Wir müssen klar zwischen solchen Inseln der Propheten und den Ozeanen des Unwissens unterscheiden, wo Modelle an ihre Grenzen stoßen. Diese Unterscheidung ist essenziell, um Modelle richtig einzuordnen.“

 

Wie sollten wir also mit Modellen umgehen, die auf Unsicherheiten beruhen?


Marco Wehr: „Ein gesunder Skeptizismus ist wichtig. Klimamodelle beispielsweise liefern wertvolle Hinweise, auch wenn sie nicht perfekt sind. Selbst bei einer geringen Wahrscheinlichkeit für katastrophale Folgen, wie etwa bei einem Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, sollten wir handeln. Doch es gilt, Panik zu vermeiden und Unsicherheiten nicht als absolute Wahrheiten auszugeben.


Ein gesunder Skeptizismus ist wichtig.

Wir müssen die Macht mathematischer Modelle anerkennen, aber sie kritisch hinterfragen. Gleichzeitig brauchen wir eine breite gesellschaftliche Diskussion über ihre Grenzen und Risiken. Nur so können wir sicherstellen, dass Modelle uns dienen, statt uns zu beherrschen. Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle: Wissenschaftstheorie, die uns lehrt, Modelle und ihre Grenzen zu verstehen, wird heute kaum noch an Universitäten gelehrt. Diese Lücke müssen wir schließen.“

Wolfgang Kerler

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Kommentare (1)

"Das konnte er nachmessen. Letzteres ist entscheidend: Ein Modell muss validierbar sein. Es ist nur dann gut, wenn es Vorhersagen macht, die in der Wirklichkeit bestätigt werden können. Diese Validierung bleibt bei vielen modernen Modellen jedoch oft unvollständig"


 

Nicht sicher, ob Wehr das auch meint. Aber Karl Popper hatte ein cooles Werkzeug, um schnell Humbug zu erkennen: die Frage "Ist das widerlegbar?". Und zwar war für Popper ein Modell wissenschaftlich, wenn man das Modell mit Geschehnissen in der Welt widerlegen kann. Jemand sagt "Alle Schwäne sind weiß", dann könnte eine Andere die Theorie widerlegen, indem sie einen schwarzen Schwan findet und zeigt. Dann gibt es aber ein KI-Modell, dass sagt "Die Entscheidung, die ich treffe, ist altruistisch". Daraufhin könnte der Andere aber kein Gegenbeispiel geben, weil er "altruistisch" nicht messen kann. Selbst wenn die Entscheidung des Modells ein für den Menschen furchtbares Geschehnis auslöst, kann das Modell im Nachhinein sagen, dass die Entscheidung ein noch schrecklicheres Geschehnis in der Zukunft vermieden hat und dadurch "altruistisch" ist. Das Modell kreiselt.

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